Prof. Dr. Stefan Kirmße, Dr. Ekkehardt Bauer, Dr. Christoph Ostermair
Die Rolle der Kapitalmärkte in Deutschland
Status quo, aktuelle Chancen und Ansatzpunkte für die Zukunft
1 Entwicklung und Status quo der Kapitalmärkte in Deutschland und Europa
Die Koalitionsverträge in Deutschland seit 1998 zeigen, dass die Förderung der Rolle und Bedeutung der Kapitalmärkte partei- und regierungsübergreifend seit über einem Vierteljahrhundert auf der politischen Agenda steht. „Wir wollen die Kapitalmarktunion vertiefen“, heißt es beispielsweise im Koalitionsvertrag der aktuellen Ampelregierung. Mit dem Zukunftsfinanzierungsgesetz will sie zudem privates Kapital zur Finanzierung einer nachhaltigen und digitalen Wirtschaftswende mobilisieren und mit dem Generationenkapital – dem Aufbau eines Kapitalstocks aus öffentlichen Mitteln – sollen das Rentensystem modernisiert und die Rentenbeiträge stabilisiert werden.
Dass Handlungsbedarf besteht, um die Rolle der Kapitalmärkte in den kommenden Jahren zu erweitern, belegt ein internationaler Vergleich der Aktienmärkte im Jahr 2022. Abbildung 1 zeigt für ausgewählte Länder die Bedeutung der Börsenfinanzierung anhand der Marktkapitalisierung aller börsennotierten inländischen Unternehmen relativ zum BIP (y-Achse). Demgegenüber wird die Nutzung des Aktienmarkts in Form des Börsenumsatzes durch Aktien relativ zum BIP gestellt (x-Achse). Zusammen mit Ländern wie Spanien, Irland und Italien bildet Deutschland die Gruppe der Länder mit klarem Wachstumspotenzial. Während in Deutschland beispielsweise der Börsenumsatz relativ zum BIP knapp 40 % beträgt, liegt dieser Wert in einem Land wie den USA mit sehr hoher Bedeutung der Kapitalmärkte bei 225 %.
Gerade vor dem Hintergrund aktueller ökonomischer Herausforderungen wie der grünen Transformation und der Digitalisierung stellt sich die Frage, ob das eher bankenzentrierte deutsche Finanzsystem in seiner derzeitigen Struktur die hierfür notwendige Finanzierung bereitstellen kann. Welche Rolle können in diesem Zusammenhang die Kapitalmärkte spielen und was sind mögliche Maßnahmen auf EU- und auch auf nationaler Ebene, um die Kapitalmärkte zu stärken und damit die Finanzierung des künftigen Investitionsbedarfs zu unterstützen?
Diesen Fragestellungen sind der Interessenverband AFME (Association for Financial Markets in Europe) und die auf Finanzdienstleister spezialisierte Unternehmensberatung zeb in einer gemeinsamen Studie im Jahr 2023 nachgegangen. Dazu wurden fünf zentrale Thesen formuliert und in einer kombinierten Betrachtung der explorativen Forschung, eingebettet in das Gesamtbild des deutschen Finanzsystems, untersucht. Die Studie ist online abrufbar.1
Abbildung 1: Aktienmärkte 2022 im Vergleich2
2 Fünf Eckpunkte zur Rolle der Kapitalmärkte in Deutschland
2.1 Die Bedeutung der Kapitalmärkte für Deutschlands künftigen Investitionsbedarf
Trotz einiger Verbesserungen hat die EU die große Lücke bei der Kapitalmarktfinanzierung bis jetzt nicht geschlossen und gilt weiterhin als eine überwiegend kreditbasierte Wirtschaft. In Deutschland existiert das Drei-Säulen-Bankensystem, bestehend aus Sparkassen, Genossenschaftsbanken und Privatbanken, welches die Spezifika der deutschen Wirtschaft mit ausgeprägtem Mittelstand widerspiegelt. Wie wichtig sind Kapitalmärkte in einer solchen Wirtschaft, gerade vor dem Hintergrund des wachsenden Investitionsbedarfs durch die großen Zukunftsthemen wie die grüne Transformation und die weiter voranschreitende Digitalisierung?
Im Jahr 2022 erreichten die Finanzierungen über Private Equity und Public Equity in Deutschland jeweils 0,39 % und 0,28 % des Bruttoinlandsprodukts. Diese Werte liegen signifikant unter den Volumen im Vereinigten Königreich (1,06 % und 0,35 % des BIP) und den USA (3,62 % und 0,34 % des BIP). Die Unterschiede sind dabei über die Jahre konstant. Allgemein lässt sich für Deutschland also durchaus ein grundsätzlicher Mangel an Risikokapital konstatieren.
Die Gründe hierfür sind vielfältig und insbesondere auch struktureller Natur.14 Mit Blick auf die Marktstruktur ist wichtig festzuhalten, dass der Risikokapitalmarkt in den USA auf eine deutlich längere Historie zurückblicken kann. Er entstand bereits nach Ende des 2. Weltkriegs, während Private Equity in Deutschland erst Mitte der 1980er-Jahre in nennenswertem Umfang aufkam. Zudem ist der US-Markt nicht nur viel größer, sondern verfügt auch über deutlich besser etablierte Ökosysteme, z. B. bzgl. der Interaktion zwischen Unternehmern, Start-up-Management, Business Angels und Exit-Kanälen. Auch bestehen Unterschiede in den Fondsstrukturen. US-Fonds werden häufig von großen Pensionsfonds, Versicherern, großen Stiftungen oder Dachfonds gespeist und sind daher meist deutlich größer als deutsche Fonds, in denen Banken oder Family Offices engagiert sind. Dadurch werden in den USA oft mehr und riskantere Projekte finanziert. Die größeren US-Fonds verfügen zudem über sehr effiziente Vorgehensmodelle und können daher relativ gesehen mehr Geschäfte abwickeln. Diese Strukturunterschiede (Markt und Fonds) werden zusätzlich durch bestimmte Firmenstrukturen verstärkt. So konzentriert sich der US-Risikokapitalmarkt weitgehend auf das Silicon Valley (IT-Unternehmen) und den Großraum Boston (Biotech-Unternehmen), was es für Investoren sehr leicht macht, relevante Start-ups zu ermitteln. Der deutsche Markt ist dagegen stärker regional fragmentiert und intransparent. Zudem fokussiert sich der Risikokapitalmarkt in Deutschland mehr auf Frühphasenfinanzierung, während Venture-Capital-Fonds in den USA vor allem exitorientiert agieren und deshalb deutlich mehr in spätere Unternehmensphasen investieren, in denen die Chance auf höhere Renditen das Finanzierungsvolumen treibt.
Einen Hinweis auf die Folgen eines eher kleinen Risikokapitalmarkts für die Unternehmensstrukturen kann der Blick auf die größten Unternehmen in den jeweiligen Ländern geben. Werden die 50 umsatzstärksten Firmen nach Branchen gegliedert, zeigt sich für Deutschland, dass der Anteil von Unternehmen aus innovativen Wachstumsbranchen (insbesondere IT) deutlich geringer ist als z. B. in den USA, während klassische Industrie- und Automobilfirmen („Industrieland Deutschland“) einen deutlich höheren Anteil einnehmen.15 In der aktuellen dualen Transformation der Wirtschaft – bestehend aus Digitalisierung und Dekarbonisierung – hat dies massive Auswirkungen auf den notwendigen Investitionsbedarf, der deshalb in Deutschland auch relativ zur Wirtschaftsleistung deutlich höher ausfallen wird als in Ländern mit anderer Wirtschaftsstruktur. Die Notwendigkeit, weitere – auch kapitalmarktbasierte – Finanzierungsquellen zu stärken, steigt dadurch weiter an (siehe auch die Ausführungen im vorangegangenen Abschnitt).
Dagegen spiegelt z. B. die Firmenstruktur in den USA das Finanzsystem wider: ein hoher Anteil an (großen) Unternehmen in Wachstumsbranchen bei gleichzeitig hoher Verfügbarkeit von wachstumsbezogenem Kapital. Es zeigt sich also, dass für die Etablierung einer noch stärkeren Wachstumskultur in der deutschen Wirtschaft die stärkere Verfügbarkeit von Risikokapital und damit alternativer Finanzierungsformen (neben Equity Finance auch Mezzanine Capital oder alternative Formen des Debt Funding) eine wichtige Voraussetzung ist.
Abbildung 4: Pre- und Post-IPO-Entwicklung deutscher Unternehmen22
Obwohl die betrachteten Firmen von einem sehr ähnlichen Umsatzwachstumsniveau starten (deutsche Unternehmen mit einem IPO in Deutschland erreichen in den drei Jahren vor dem Börsengang ein durchschnittliches jährliches Umsatzwachstum von 6,6 %, deutsche Unternehmen mit einem IPO an einer ausländischen Börse 7,4 %), wachsen Unternehmen in den Jahren nach einem IPO im Ausland plötzlich deutlich stärker (19,1 % durchschnittliches jährliches Umsatzwachstum zu 11,7 % bei inländischen IPOs).23 Noch gravierender fällt der Unterschied mit Blick auf die geografische Ausrichtung der Unternehmen aus. So bleibt der Anteil des Umsatzes in Deutschland bei IPOs an einer deutschen Börse über die Zeit konstant. Unternehmen mit einem IPO im Ausland starten nicht nur mit einer sehr viel geringeren Bedeutung des Deutschlandgeschäfts, sie verlagern nach dem Börsengang ihren Fokus zunehmend in andere Märkte. Dieses Ergebnis wird auch in der weiteren wissenschaftlichen Literatur bestätigt.24
Zusammenfassend wachsen Unternehmen mit grenzüberschreitendem IPO nicht nur schneller, nachdem sie Public Equity erhalten haben, sie haben auch die Tendenz, ihr Geschäft zunehmend weg aus Deutschland in andere Länder zu verlagern. Dies mag in der Natur der betroffenen Unternehmen liegen, führt aber zu negativen Auswirkungen auf die deutsche Wirtschaft. So wird Wachstum – gerade in Phasen der Stagnation – durch herausragende Innovationen stimuliert. Verlassen jedoch innovative Unternehmen (und damit Köpfe) das Land aufgrund unzureichender Risikokapitalfinanzierung, leidet das Wachstumspotenzial der gesamten Wirtschaft.
2.4 Der Zusammenhang zwischen privater Aktienkultur und (staatlichem) Rentensystem
Deutschland besitzt eine wenig ausgeprägte private Risiko- und Kapitalmarktkultur. Diese auf den ersten Blick etwas harsch wirkende Bestandsaufnahme lässt sich anhand ausgewählter Zahlen klar belegen. So ist das Geldvermögen der privaten Haushalte zu fast 60 % in risikoarmen Assetklassen wie Bargeld, Einlagen und Lebensversicherungen gebunden. Der Aktien- und Investmentfondsanteil liegt dagegen bei nur 27 %; der Rest verteilt sich auf Pensionsfonds und andere Schuldtitel. In den USA ergibt sich ein entgegengesetztes Bild: Aktien und Investmentfonds bilden den größten Anteil mit 54 %, auf Bargeld, Einlagen und Lebensversicherungen entfallen nur 18 %. Im Vereinigten Königreich dominieren ebenfalls kapitalmarktorientierte Pensionsfonds (47 %). Interessant ist, dass die Anteile insgesamt auch über längere Betrachtungszeiträume relativ stabil bleiben. Das heißt, die grundsätzlichen Anlagemuster werden weniger von wirtschaftlichen Ereignissen, sondern mehr von Kultur und Einstellung der privaten Haushalte gegenüber Assetklassen bestimmt.25
Trotzdem lässt sich auch in Deutschland eine Veränderung in der Aktienkultur feststellen – insbesondere bei der jüngeren Generation. Zwischen 2015 und 2022 stieg der Anteil der Aktieninhabenden in der Altersgruppe der 20- bis 29-Jährigen um 208 %.26 Dies deutet u. a. auf ein wachsendes Bewusstsein für die Notwendigkeit privater Altersvorsorge hin.
Eine wesentliche Erklärung der grundsätzlichen Risikokultur und Kapitalmarktorientierung privater Haushalte in unterschiedlichen Ländern liefert ein genauerer Blick auf die jeweiligen Rentensysteme und die dort herrschenden teils fundamentalen Strukturunterschiede. Das deutsche Rentensystem wird dominiert von der gesetzlichen, umlagefinanzierten Rentenversicherung. Das durchschnittliche Einkommen von Rentner:innen in Deutschland besteht zu 76 % aus den Leistungen der gesetzlichen Rente. 9 % stammen aus Gehältern (z. B. im Rahmen einer fortgesetzten Arbeitstätigkeit auch nach Rentenbeginn), nur 8 % aus der betrieblichen Rente und 7 % aus Privatinvestitionen. Das Rentensystem im Vereinigten Königreich ist dagegen eine Kombination aus staatlicher und betrieblicher Rente. Der staatliche Anteil wird finanziert über National-Insurance-Beiträge, ein Umlagesystem ohne Investition in Kapitalmärkte, der betriebliche Anteil über eine obligatorische Betriebsrente für Beschäftigte, deren Beiträge über Fonds angelegt werden können. Dies hat zur Folge, dass das Einkommen britischer Rentner:innen „nur noch“ zu 57 % aus staatlichen Zahlungen und zu 28 % aus Betriebsrenten besteht (der Rest verteilt sich auf Gehälter und private Investitionen). Im internationalen Vergleich zeigt die USA ein erwartetes Muster mit dem geringsten Anteil an staatlichen Leistungen (54 %), 19 % aus Gehältern und 27 % der Renten aus privater Vorsorge.27
Mit Blick auf die Kapitalmarktkultur kann festgestellt werden, dass das Verhalten privater Haushalte der Struktur des Rentensystems folgt. Es gibt über verschiedene internationale Märkte hinweg eine deutliche Korrelation zwischen dem allgemeinen Anteil von Aktien und Investmentfonds an den gesamten finanziellen Vermögenswerten privater Haushalte und dem Vermögen in kapitalmarktnahen Rentenbestandteilen (Abbildung 5).
Die grafische Ableitung verdeutlicht, dass verpflichtende Pläne oder kapitalgedeckte Renten in bestimmten Ländern eine indirekte bzw. direkte Kapitalmarktbeteiligung deutlich erhöhen. Insbesondere ein grundlegender Wechsel des Rentensystems von einem staatlichen Umlagesystem hin zu einem kapitalgedeckten Modell bringt auch private Haushalte dazu, in Aktien zu investieren. So ist z. B. in Schweden, wo dieser Wechsel im Jahr 2000 vollzogen wurde, der Anteil von Aktien und Investmentfonds an den Finanzanlagen privater Haushalte von 31 % im Jahr 1995 auf mittlerweile 48 % (2020) angestiegen.29
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die kulturellen Einstellungen und die Struktur des Rentensystems in Deutschland eine direkte Beteiligung am Kapitalmarkt beeinflussen. Während eine breitere Aktienkultur entsteht, bleibt die Frage offen, ob das deutsche Rentensystem eine umfassendere Beteiligung verhindert. Zukünftige Veränderungen im Rentensystem könnten die private Kapitalmarktbeteiligung weiter fördern und damit zusätzlich die finanzielle Sicherheit im Alter verbessern. Ein erster Schritt wurde mit der Einführung des sog. „Generationenkapitals“ in 2024 getan.30 Für eine wirkliche Veränderung der Aktienkultur in Deutschland müssen weitere Schritte folgen.
2.5 Verbriefungen – ein Weg für Anleger zu deutschen KMU
Grundsätzlich gibt es mehrere Wege für Anleger, direkt in KMU zu investieren. Neben Aktien und Anleihen existieren die Instrumente Private Equity, also nicht öffentliches Beteiligungskapital inklusive Risiko- und Wachstumskapital, sowie Mezzanine-Kapital, welches die Eigenschaften von Eigen- und Fremdkapital verbindet und Laufzeiten von meist mehr als fünf Jahren beinhaltet.
Tatsächlich werden Kapitalmarkt- und Beteiligungsfinanzierungen jedoch nur von einer Minderheit der KMU als mögliche Finanzierungsquellen angesehen. In einer Befragung geben 3 % (5 %) der Unternehmen mit Finanzierungsbedarf an, dass sie den Kapitalmarkt (Private Equity) als Finanzierungsquelle in Betracht ziehen. Bankkredite werden dagegen von 85 % der Unternehmen mit Finanzierungsbedarf berücksichtigt.31 Die Haupthindernisse für Kapitalmarkt- und Beteiligungsfinanzierungen sind das dominante Bankensystem, der geringe Anteil börsennotierter Unternehmen sowie ein grundsätzlich intransparenter und regional verstreuter Markt. Die Kernfrage lautet daher, inwieweit es für Investoren indirekte Wege gibt, z. B. mittels verbriefter Bankkredite über Kapitalmärkte, um in KMU investieren zu können.
Schuldscheindarlehen sind eine deutsche Besonderheit, welche die Eigenschaften von Darlehen und Anleihen vereinen und Direktinvestitionen in KMU-Kredite erlauben. Sie sind unbesichert begebene Darlehen mit geringen Dokumentationsanforderungen, die von mehreren Anlegern finanziert werden können. Banken sind mit einem Marktanteil von etwa 80 % meist Arrangeur und Investor. Die verbleibenden 20 % der Investoren rekrutieren sich hauptsächlich aus Versicherungsgesellschaften, Pensionskassen, Fonds und Family Offices. Häufig fungiert der Arrangeur als Erstkreditgeber und überträgt anschließend einzelne Tranchen an Investoren. Typische Volumina rangieren zwischen 20 und 500 Mio. EUR mit Laufzeiten zwischen zwei und zehn Jahren.32
Schuldscheindarlehen bieten den Vorteil, dass sie leicht von einem Gläubiger auf den anderen zu übertragen sind. Allerdings werden sie nicht öffentlich gehandelt. Gleichzeitig sind ihre Emissionen mit einem im Vergleich zu beispielsweise Anleihen geringeren bürokratischen Aufwand verbunden und daher günstiger. Verglichen mit Krediten können Unternehmen meist höhere Finanzierungsvolumina wählen.
Als Herausforderung stellen sich dagegen die im Vergleich zu Anleihen höheren Finanzierungskosten dar, welche aus dem Fehlen von Sicherheiten und der implizierten Illiquidität resultieren. Außerdem erlauben die festen Laufzeiten keine vorzeitige Rückzahlung.
Die mit Schuldscheindarlehen auch für höher verschuldete Firmen verbundene Möglichkeit, Kredite zu erhalten, ist ein erklärender Faktor für das relativ hohe Volumen in Deutschland. Im Jahr 2022 wurden beispielsweise Schuldscheindarlehen in Höhe von insgesamt über 120 Mrd. EUR neu emittiert.33 Dies wiederum belastet im Umkehrschluss jedoch gleichzeitig das Volumen und die Größe des Verbriefungsmarkts.
In ihrer grundlegendsten Form – der traditionellen oder True-Sale-Verbriefung – ist die Verbriefung ein Prozess, bei dem illiquide Vermögenswerte zusammengeführt, in handelbare Wertpapiere umgewandelt und in Tranchen mit unterschiedlichem Risikoprofil aufgeteilt werden. In der Regel verkaufen Banken Kredite aus ihrer Bilanz an eine Zweckgesellschaft, die den Kauf der Kredite durch Ausgabe von Anleihen an institutionelle Anleger finanziert. Institutionelle Anleger tragen ein Risiko je nach eigener Risikobereitschaft, jedoch haben Banken eine Selbstbehaltanforderung von mindestens 5 %. Da sie öffentlich gehandelt werden, sind Verbriefungen leicht übertragbar und entsprechend liquide. Verbriefungen stellen eine Investition in viele Unternehmen dar und nicht in ein einziges wie im Falle von Schuldscheindarlehen. Abbildung 6 zeigt die in Deutschland platzierten Verbriefungsemissionen pro Jahr. Dabei wird deutlich, wie stark das Verbriefungsvolumen nach der Finanzkrise zurückging und dass seitdem noch keine vollständige Erholung stattgefunden hat. Während das Volumen im Jahr 2008 noch knapp 37 Mrd. EUR betrug, pendelt es seit 2010 nur noch zwischen circa sieben und 16 Mrd. EUR.34
Zu den Vorteilen von Verbriefungen zählt, dass sie als Refinanzierungsquelle für Banken dienen und dort gleichzeitig – sofern die Verbriefungen die aufsichtsrechtlichen Kriterien für einen signifikanten Risikotransfer (SRT) erfüllen – Kapital freisetzen und damit Spielräume zur Finanzierung der Realwirtschaft schaffen. Außerdem bieten Verbriefungen Banken ein weiteres Instrumentarium zum Umgang mit notleidenden Engagements und die Möglichkeit, mehr Kapital in das KMU-Marktsegment fließen zu lassen. Als Herausforderung für Verbriefungen betonen Marktfachleute, dass die präskriptive Regulierung das Wachstum des europäischen Verbriefungsmarkts deutlich einschränkt.
Seit der globalen Finanzkrise hat die EU versucht, den europäischen Verbriefungsmarkt durch Umsetzung der Verbriefungsverordnung (EU 2017/2402, „SECR“) im Jahr 2019 wiederzubeleben. Mit der SECR wurde u. a. der Rahmen für einfache, transparente und standardisierte Verbriefungen (STS) geschaffen. Obwohl der SECR einen internationalen „Goldstandard“ für STS- und Nicht-STS-Verbriefungen geschaffen hat, betonen Marktfachleute, dass bestimmte Aspekte des regulatorischen Rahmens gezielte Anpassungen erfordern, damit der Markt wachsen kann. Zwar ist der politische Wille vorhanden, wie der deutsch-französische Fahrplan für die Kapitalmarktunion zeigt, in dem betont wird, dass „einige regulatorische Ungleichgewichte das volle Potenzial dieses Instruments zur Finanzierung der Wirtschaft einschränken könnten“, doch sei auch eine vollständige Angleichung durch die Aufsichtsbehörden erforderlich, um solche Verbesserungen des regulatorischen Rahmens tatsächlich zu erzielen.
Abbildung 6: Platzierte Verbriefungsemissionen pro Jahr (in Mrd. EUR)
Ein größerer Verbriefungsmarkt kann letztlich insbesondere dabei unterstützen, die Finanzierung für KMU zu verbessern; so kann ein wesentlicher Beitrag zur Realwirtschaft geleistet werden. Er schafft zudem die Möglichkeit zur aktiven Steuerung des Risiko-Ertrags-Verhältnisses einer Bank – mit positiven Folgen für die allgemeine Stabilität des Finanzsystems.
3 Fazit und Ausblick
Zusammengefasst liefert unsere umfassende Studie zur Rolle der Kapitalmärkte in Deutschland drei Hauptergebnisse.
Zunächst ist zu konstatieren, dass es den Kapitalmärkten in Deutschland tatsächlich an Größe (gerade auch relativ zur Realwirtschaft) und Relevanz fehlt. Ihre Bedeutung bleibt in vielen entscheidenden Punkten hinter anderen Ländern zurück – nicht nur hinter dem Vereinigten Königreich und den USA, sondern zum Teil auch im kontinentaleuropäischen Vergleich (speziell ggü. Frankreich). Die Studie belegt auch, dass eine größere Rolle der Kapitalmärkte eigentlich dringend erforderlich ist. Die großen finanziellen Herausforderungen der Zukunft (nachhaltige Transformation und Digitalisierung) können in Deutschland nicht allein innerhalb des bestehenden bankendominierten, kreditfokussierten Finanzsystems gelöst werden – unabhängig davon, wie gut das deutsche System derzeit ist und wie passend es die wirtschaftliche und politische Struktur abbildet. Die Kapitalmärkte können damit einen Beitrag zur Bewältigung der zukünftigen Herausforderungen in Deutschland leisten. Die vorliegende Untersuchung identifiziert und formuliert erste konkrete Ansätze für die Entwicklung der Kapitalmärkte in Deutschland: Schwerpunkte liegen auf dem Themenfeld Risikokapital und seinen Auswirkungen auf Wachstum und Innovation deutscher Unternehmen sowie den Überlegungen zur weiteren Etablierung und Verbreiterung einer Aktienkultur in Deutschland. Ein weiterer Hauptpunkt für die Verbreitung der Kapitalmärkte wird die Umsetzung der bereits lange diskutierten Kapitalmarktunion in Europa sein. Auch gibt es, angestoßen durch die aktuelle Bundesregierung, mit dem Zukunftsfinanzierungsgesetz und dem Konzept des Generationenkapitals erste konkrete Ansätze zur Stärkung der Kapitalmärkte. Weitere Schritte sind nicht nur politisch opportun, sondern gerade auch ökonomisch sinnvoll. Die Analyse zeigt dies deutlich auf.

Über die Autoren
Prof. Dr. Stefan Kirmße ist Gründungspartner von zeb und war von 1998–2014 Partner und Geschäftsführer sowie von 2015–2020 erster Managing Director. Er ist habilitierter Diplom-Kaufmann sowie Professor für allgemeine Betriebswirtschaftslehre (insbesondere Bankmanagement) an der Steinbeis-Hochschule und daneben Autor einer Vielzahl von Studien und Artikeln.

Dr. Ekkehardt Bauer ist Senior Manager und Teamleiter im zeb.research. Seit über 25 Jahren ist er Autor zahlreicher Studien und Artikel zu den thematischen Schwerpunkten Groß-, Wholesale- und Privatbanken, internationale Banken- und Kapitalmärkte sowie der volkswirtschaftlichen Entwicklung.

Dr. Christoph Ostermair ist Consultant bei zeb und im Embedded Research tätig. Seine thematischen Schwerpunkte sind volkswirtschaftliche und kapitalmarktbezogene Analysen sowie Simulationen und Forecasts.