Prof. Dr. Stefan Kirmße, Dr. Ekkehardt Bauer, Dr. Christoph Ostermair

Die Rolle der Kapitalmärkte in Deutschland

Status quo, aktuelle Chancen und Ansatzpunkte für die Zukunft

Owning Your Brand’s Social Community Drives More Shoppers and Sales


1 Entwicklung und Status quo der Kapitalmärkte in Deutschland und Europa

Die Koalitionsverträge in Deutschland seit 1998 zeigen, dass die Förderung der Rolle und Bedeutung der Kapitalmärkte partei- und regierungsübergreifend seit über einem Viertel­jahrhundert auf der politischen Agenda steht. „Wir wollen die Kapitalmarktunion vertiefen“, heißt es beispielsweise im Koalitionsvertrag der aktuellen Ampelregierung. Mit dem Zukunftsfinanzierungsgesetz will sie zudem privates Kapital zur Finanzierung einer nachhaltigen und digitalen Wirtschafts­wende mobilisieren und mit dem Generationenkapital – dem Aufbau eines Kapitalstocks aus öffentlichen Mitteln – sollen das Rentensystem modernisiert und die Rentenbeiträge stabilisiert werden.

Dass Handlungsbedarf besteht, um die Rolle der Kapitalmärkte in den kommenden Jahren zu erweitern, belegt ein internationaler Vergleich der Aktienmärkte im Jahr 2022. Abbildung 1 zeigt für ausgewählte Länder die Bedeutung der Börsenfinanzierung anhand der Markt­kapitalisierung aller börsennotierten inländischen Unternehmen relativ zum BIP (y-Achse). Demgegenüber wird die Nutzung des Aktienmarkts in Form des Börsenumsatzes durch Aktien relativ zum BIP gestellt (x-Achse). Zusammen mit Ländern wie Spanien, Irland und Italien bildet Deutschland die Gruppe der Länder mit klarem Wachstumspotenzial. Während in Deutschland beispielsweise der Börsenumsatz relativ zum BIP knapp 40 % beträgt, liegt dieser Wert in einem Land wie den USA mit sehr hoher Bedeutung der Kapital­märkte  bei 225 %.

Gerade vor dem Hintergrund aktueller ökonomischer Herausforderungen wie der grünen Transformation und der Digitalisierung stellt sich die Frage, ob das eher bankenzentrierte deutsche Finanzsystem in seiner derzeitigen Struktur die hierfür notwendige Finanzierung bereitstellen kann. Welche Rolle können in diesem Zusammenhang die Kapitalmärkte spielen und was sind mögliche Maßnahmen auf EU- und auch auf nationaler Ebene, um die Kapital­märkte zu stärken und damit die Finanzierung des künftigen Investitionsbedarfs zu unterstützen?

Diesen Fragestellungen sind der Interessenverband AFME (Association for Financial Markets in Europe) und die auf Finanzdienstleister spezialisierte Unternehmens­beratung zeb in einer gemeinsamen Studie im Jahr 2023 nachgegangen. Dazu wurden fünf zentrale Thesen formuliert und in einer kombinierten Betrachtung der explorativen Forschung, eingebettet in das Gesamt­bild des deutschen Finanz­systems, untersucht. Die Studie ist online abrufbar.1

Abbildung 1: Aktienmärkte 2022 im Vergleich2

Dieser Artikel fasst die zentralen Ergebnisse der gemeinsamen Studie zusammen, wobei herausgearbeitet wurde, dass A) die neuen investiven Herausforderungen andere Finanzierungs­quellen im deutschen bankbasierten System erfordern; B) Deutschland es an Risikokapital (privat und öffentlich) zur Förderung von Wachstum und Innovation mangelt; C) insbesondere wachstumsorientierte Unternehmen ihre Börsennotierung ins Ausland verlagern; D) die Aktienkultur in Deutschland im Vergleich zur europäischen Peergroup sowie der Schweiz und den USA deutlich zurückbleibt, wobei insbesondere Änderungen im Renten­system einen wichtigen Hebel darstellen, und E) derzeit nur begrenzte Möglichkeiten für Anlegende existieren, den deutschen Mittelstand zu finanzieren, wobei Verbriefungen ein Potenzial für den deutschen Markt darstellen.

Der Artikel ist wie folgt aufgebaut: Kapitel 2 fasst die zentralen Ergebnisse der fünf untersuchten Thesen zusammen, Kapitel 3 schließt den Artikel mit einem Fazit ab.


2 Fünf Eckpunkte zur Rolle der Kapitalmärkte in Deutschland

2.1 Die Bedeutung der Kapitalmärkte für Deutschlands künftigen Investitionsbedarf

Trotz einiger Verbesserungen hat die EU die große Lücke bei der Kapitalmarkt­finanzierung bis jetzt nicht geschlossen und gilt weiterhin als eine überwiegend kreditbasierte Wirtschaft. In Deutschland existiert das Drei-Säulen-Bankensystem, bestehend aus Sparkassen, Genossen­schafts­banken und Privatbanken, welches die Spezifika der deutschen Wirtschaft mit ausgeprägtem Mittelstand widerspiegelt. Wie wichtig sind Kapitalmärkte in einer solchen Wirtschaft, gerade vor dem Hintergrund des wachsenden Investitionsbedarfs durch die großen Zukunfts­themen wie die grüne Transformation und die weiter voranschreitende Digitalisierung?

Abbildung 2: Relevanz nationaler Bankensektoren 2007–20223

Seit der Finanzkrise 2007/2008 hat sich die Bedeutung der nationalen Bankensektoren verändert. Abbildung 2 zeigt diese Veränderung anhand der Bankenbilanzsummen relativ zum BIP für ausgewählte Länder (y-Achse). Demgegenüber wird der Wohlstand in Form des BIP pro Kopf in Kaufkraftparitäten gestellt (x-Achse). Die Zahlen decken sich mit der wirtschaftlichen Entwicklung seit 2007 und unterstreichen die typisch hohe Bedeutung des Bankensektors in Europa. Deutschland zählt mit einem Wert von etwa 270 % hinsichtlich der Bilanzsumme aller deutschen Banken relativ zum BIP im Jahr 2022 zur Gruppe der klassischen „Hausbanken­systeme“. Ein Blick über den Atlantik unterstreicht dagegen die systemischen Unterschiede zu den USA: Der geringe Intermediationsgrad von etwa 90 % im Jahr 2022 in den USA deutet auf die dort im Vergleich geringere Bedeutung der Banken aufgrund starker Kapital­märkte hin.

Auch eine Aufschlüsselung der Finanzierungsquellen von Unternehmen unterstreicht die hohe Nutzung von Bankkrediten, aber ebenso den geringen Anteil von Kapitalmarktinstrumenten in Deutschland. Gemessen an der Bilanzsumme machten im Jahr 2022 Kredite mit 29 % den größten Anteil an der Finanzierung deutscher Unternehmen aus. Demgegenüber spielen gelistete Aktien (25 %) und Schuldverschreibungen (3 %) eine erkennbar geringere Rolle. Dagegen ist in den USA die kapitalmarktbezogene Finanzierung am verbreitetsten mit einem durchschnittlichen Anteil gelisteter Aktien an der Bilanzsumme in Höhe von 32 %, Schuld­verschreibungen mit einem Anteil von 8 % und nur 12 % Krediten.4 

Ergebnisse des zeb.Wallet-Modells für Firmenkunden untermauern das Bild einer stark kreditbasierten deutschen Wirtschaft. Das Gesamt-Wallet im Firmen­kundengeschäft der Banken in Deutschland wird in allen Kundensegmenten von Krediten dominiert. Besonders auffällig ist dies im Segment der Großkunden, also Firmen mit einem Jahresumsatz größer als 50 Mio. EUR. Hier fallen 66 % des Kundensegment-Wallets in Höhe von insgesamt 16,0 Mrd. EUR auf Kredite. Zum Vergleich: Das Wertpapiergeschäft (inkl. Gebühren, Provisionen, z. B. Aktienkauf/‑verkauf, Wertpapierverwahrung; kein Emissionsgeschäft) macht nur 2 % dieses Volumens aus.5

Angesichts des vergleichsweise schwach entwickelten Kapitalmarkts in Deutschland könnte man meinen, dass deutsche Unternehmen mit finanziellen Engpässen und Finanzierungs­lücken konfrontiert sind. Doch ein internationaler Vergleich zeigt, dass trotz unterschiedlicher Bedeutung der Banken keine Anzeichen für deutliche Lücken in der Unternehmens­finanzierung bestehen. Gemäß einer Umfrage der Europäischen Investitions­bank aus den Jahren 2016–2022 ist der Anteil der deutschen Unternehmen mit finanziellen Engpässen eher gering. So erreichte der Anteil der befragten Unternehmen, die über Finanzierungs­engpässe klagten, nie mehr als 6 %. Auch gibt es keine Anzeichen für grundlegende Unterschiede zwischen Deutschland, dem Vereinigten Königreich und den USA.6 Eine von Beck & Kessler (2023) veröffentlichte Studie zeigt ebenfalls kein systematisches Problem. Zwar erhielten einige deutsche KMU schlussendlich weniger finanzielle Mittel als zunächst angefragt – die als Differenz aus nachgefragten und erhaltenen Krediten berechnete Finanzierungslücke fiel mit durchschnittlich 40.000 EUR jedoch eher moderat aus.

Auf ein grundsätzliches Problem des stark kreditbasierten Finanzierungssystems in Deutschland weisen diese Zahlen folglich nicht hin. 

Die derzeitigen makroökonomischen Entwicklungen wie hohe Inflationsraten und gestiegene Zinsen sowie auch die aktuellen geopolitischen Brandherde werden die Finanzierungslücke jedoch tendenziell erheblich verschärfen. Für zusätzlichen Druck sorgt der mit dem Klima­wandel verbundene Finanzierungsbedarf, wie es Schätzungen der Europäischen Kommission unterstreichen: Bis 2030 sind in Deutschland Investitionen in Höhe von etwa 322 Mrd. EUR pro Jahr erforderlich, um die angestrebte Reduktion der Treibhausgase zu erreichen. Und das beinhaltet nur die zusätzlichen Transitionskosten, d. h. Verluste durch physische Risiken sind nicht inbegriffen. Unter Berücksichtigung der Verteilung nach Branchen und ausgehend von typischen Finanzierungsmustern ergibt sich ein Außen­finanzierungs­bedarf von etwa 176 Mrd. EUR pro Jahr für die deutsche Wirtschaft bis 2030.7 Die Kernfrage lautet daher, ob der Bankensektor diesen gestiegenen Investitionsbedarf abdecken kann oder welche Finanzierungsquellen die erforderlichen Mittel alternativ bereitstellen können?

Eine zeb-Simulation zu den Kapitalquoten deutscher Banken zeigt, dass der Effekt von Investitionen in die nachhaltige Transformation enorme Auswirkungen auf deren CET1-Quoten hätte. Berechnet wird die Simulation u. a. unter der Annahme eines RWA-Wachstums durch die Green-Deal-Volumina und fester RWA-Gewichte, des regulatorischen Effekts von Basel IV in Höhe von 7 % auf die Banken-RWA, einer Steigerung des Jahresgewinns um circa 5 % p. a. sowie eines Eigenkapital­wachstums durch Einbehaltung von etwa 40 % der jährlichen Gewinne. Im Ergebnis würde dies die durchschnittliche CET1-Quote aller deutschen Banken von 15,4 % im Jahr 2020 auf 12,5 % im Jahr 2030 senken. Die komplette Finanzierung der nachhaltigen Transformation in Deutschland durch den Bankensektor würde folglich die durchschnittliche CET1-Quote auf einen derart unrealistisch niedrigen Wert fallen lassen, dass alternative Finanzquellen unumgänglich erscheinen. 

Ein zusätzlicher Faktor, der das Betriebsergebnis der Banken belastet und damit den Spielraum für weiteres Kreditwachstum zumindest bei einigen Instituten bremsen dürfte, ist der mit der Digitalisierung verbundene Budget- und Ressourcenbedarf der kommenden Jahre. Die Digitalisierung löst Veränderungen in allen Bereichen aus, und gerade für Banken wird technologische Innovation zum entscheidenden Faktor für ein stabiles Geschäftsmodell werden. Eine Umfrage der EZB unter 105 europäischen Großbanken über ihre digitale Transformation zeigt, dass der digitale Reifegrad der Banken sehr heterogen ist. Trotz vorhandener digitaler Transformationsstrategien gibt es noch viel zu tun, und es sind große (finanzielle) Anstrengungen erforderlich. Neue Technologien wie künstliche Intelligenz werden die erforderlichen Budgets und den Personalbedarf weiter erhöhen. Das in der Studie für das Jahr 2021 ermittelte Budget des Bankensektors in Höhe von 5 Mrd. EUR p. a. sowie die Summe von 100.000 vollzeitäquivalenten Stellen für die digitale Transformation können deshalb als zukünftiges Minimum gelten.8

Der kombinierte Effekt von nachhaltiger Transformation und Digitalisierung deutet auf einen Bedarf an zusätzlichen Kapitalquellen über den klassischen Bankkredit hinaus hin. Dies gilt gerade vor dem aktuellen Hintergrund wirtschaftlicher Verschiebungen durch Decoupling der Lieferketten, Verringerung der wirtschaftlichen Abhängigkeiten und Deglobalisierungs­tendenzen. Mit dem wachsenden Investitionsbedarf steigt auch der zusätzliche Finanzierungs­bedarf, z. B. vorzugsweise über Kapitalmärkte oder – außerhalb des regulierten Finanzsystems – über Nichtbanken, was nach Expertenansicht zu Problemen führen könnte. In diesem Fall sind die Kapitalmärkte kein Ersatz für Banken, sondern eine sinnvolle und notwendige Ergänzung.

2.2 Die Bedeutung von Risikokapital für Unternehmensstrukturen und Unternehmensfinanzierungen

Die deutsche Wirtschaft ist international bekannt für ihre vom Mittelstand und von globalen „Hidden Champions“ geprägte Unternehmensstruktur. Wie im voran­gegangenen Abschnitt gesehen, ist dabei die klassische Bankfinanzierung die deutlich wichtigste Finanzierungsquelle deutscher Firmen. Im Gegensatz dazu spielen in anderen Ländern, z. B. dem Vereinigten Königreich oder den USA, oft unter dem Begriff „Risikokapital“ zusammengefasste Finanzierungen eine deutlich größere Rolle.9 Welche Folgen haben diese Unterschiede für die Unternehmens­struktur und das Finanzsystem in den Ländern?

Aus Kapitalmarktsicht sind zunächst drei Punkte auffällig: (1) Der Anteil börsennotierter Firmen ist, gemessen an der Gesamtzahl aller Unternehmen, in Deutschland nur in etwa halb so hoch wie im Vereinigten Königreich und den USA. (2) Gerade große und mittelgroße Unternehmen sind in Deutschland deutlich weniger häufig am Aktienmarkt gelistet. Während in den USA über 90 % der großen Unternehmen (Umsatz mindestens 50 Mio. EUR) börsen­notiert sind, sind es in Deutschland nur knapp 70 %. Im Vereinigten Königreich sind rund 27 % der mittelgroßen Unternehmen (Umsatz zwischen 5 und 50 Mio. EUR) an der Börse, in Deutschland 19 %. (3) Der „adressierbare“ Streubesitz, d. h. die Anzahl an Aktien eines Unternehmens, der sich im Besitz vieler verschiedener Aktionäre befindet und am Kapital­markt frei gehandelt werden kann („Free Float“), ist in Deutschland signifikant geringer. Während im Vereinigten Königreich rund 92 % und in den USA 93 % prinzipiell frei gehandelt werden, sind es in Deutschland nur 56 %. Das bedeutet, 44 % der Aktien von in Deutschland an der Börse gelisteten Firmen befinden sich in fester Hand, z. B. in Familien­besitz.10 Aus Sicht externer Investoren sind damit in Deutschland nicht nur viel weniger große und mittelgroße Unternehmen gelistet, der davon verfügbare Aktienanteil ist zusätzlich deutlich geringer.

Dies wirft die Kernfrage auf, welche Gründe es für die deutsche Börsen­zurückhaltung gibt. Anhand eines ausführlichen Vergleichs von möglichen Hindernissen für eine Börsennotierung und den Zugang zu Aktienmärkten für Unternehmen ergeben sich belastbare und quantifizierbare Erklärungsansätze. Im Rahmen unserer Analyse wurden dafür elf messbare Kernindikatoren zur Kapital­markt­struktur, Besteuerung, zu Kosten, Kultur und Regulierung gegenübergestellt. Dabei zeigt sich, dass Deutschland (im Vergleich zu Frankreich, dem Vereinigten Königreich und den USA) insbesondere in der Bedeutung institutioneller Investoren, dem Anteil privater Aktienbesitzer, in der Liquidität der Märkte oder dem Anteil großer, nicht börsennotierter Firmen teils deutlich hinter anderen Märkten liegt. Obwohl der deutsche Aktienmarkt mit Blick auf die möglichen Kosten einer Börsennotierung und die Höhe der Risikoprämie von Aktien im Vergleich zu anderen Finanzierungsformen sogar vor anderen Ländern liegt, ergeben sich im Gesamtbild in Deutschland oft deutlich höhere Markt­eintritts­barrieren als in anderen Ländern. Ein Mangel an öffentlich gehandelten Aktien („Public Equity“) ist die Folge.11

Noch offensichtlicher sind die Unterschiede im Bereich des privaten Beteiligungskapitals („Private Equity“12). Wie Abbildung 3 verdeutlicht, ist der Abstand zu anderen Ländern gerade in diesem Bereich nochmals deutlich größer als im Public-Equity-Bereich.

Abbildung 3: Private-Equity- und Public-Equity-Emissionen zu Bruttoinlandsprodukt 2022 (in %)13

Im Jahr 2022 erreichten die Finanzierungen über Private Equity und Public Equity in Deutschland jeweils 0,39 % und 0,28 % des Bruttoinlandsprodukts. Diese Werte liegen signifikant unter den Volumen im Vereinigten Königreich (1,06 % und 0,35 % des BIP) und den USA (3,62 % und 0,34 % des BIP). Die Unterschiede sind dabei über die Jahre konstant. Allgemein lässt sich für Deutschland also durchaus ein grundsätzlicher Mangel an Risikokapital konstatieren.

Die Gründe hierfür sind vielfältig und insbesondere auch struktureller Natur.14 Mit Blick auf die Marktstruktur ist wichtig festzuhalten, dass der Risikokapitalmarkt in den USA auf eine deutlich längere Historie zurückblicken kann. Er entstand bereits nach Ende des 2. Weltkriegs, während Private Equity in Deutschland erst Mitte der 1980er-Jahre in nennenswertem Umfang aufkam. Zudem ist der US-Markt nicht nur viel größer, sondern verfügt auch über deutlich besser etablierte Ökosysteme, z. B. bzgl. der Interaktion zwischen Unternehmern, Start-up-Management, Business Angels und Exit-Kanälen. Auch bestehen Unterschiede in den Fonds­strukturen. US-Fonds werden häufig von großen Pensionsfonds, Versicherern, großen Stiftungen oder Dachfonds gespeist und sind daher meist deutlich größer als deutsche Fonds, in denen Banken oder Family Offices engagiert sind. Dadurch werden in den USA oft mehr und riskantere Projekte finanziert. Die größeren US-Fonds verfügen zudem über sehr effiziente Vorgehens­modelle und können daher relativ gesehen mehr Geschäfte abwickeln. Diese Struktur­unterschiede (Markt und Fonds) werden zusätzlich durch bestimmte Firmenstrukturen verstärkt. So konzentriert sich der US-Risikokapitalmarkt weitgehend auf das Silicon Valley (IT-Unternehmen) und den Großraum Boston (Biotech-Unternehmen), was es für Investoren sehr leicht macht, relevante Start-ups zu ermitteln. Der deutsche Markt ist dagegen stärker regional fragmentiert und intransparent. Zudem fokussiert sich der Risiko­kapitalmarkt in Deutschland mehr auf Früh­phasen­finanzierung, während Venture-Capital-Fonds in den USA vor allem exit­orientiert agieren und deshalb deutlich mehr in spätere Unternehmensphasen investieren, in denen die Chance auf höhere Renditen das Finanzierungsvolumen treibt.

Einen Hinweis auf die Folgen eines eher kleinen Risikokapitalmarkts für die Unternehmens­strukturen kann der Blick auf die größten Unternehmen in den jeweiligen Ländern geben. Werden die 50 umsatzstärksten Firmen nach Branchen gegliedert, zeigt sich für Deutschland, dass der Anteil von Unternehmen aus innovativen Wachstumsbranchen (insbesondere IT) deutlich geringer ist als z. B. in den USA, während klassische Industrie- und Automobilfirmen („Industrieland Deutschland“) einen deutlich höheren Anteil einnehmen.15 In der aktuellen dualen Transformation der Wirtschaft – bestehend aus Digitalisierung und Dekar­bonisierung – hat dies massive Auswirkungen auf den notwendigen Investitions­bedarf, der deshalb in Deutschland auch relativ zur Wirtschaftsleistung deutlich höher ausfallen wird als in Ländern mit anderer Wirtschaftsstruktur. Die Notwendigkeit, weitere – auch kapitalmarktbasierte – Finanzierungsquellen zu stärken, steigt dadurch weiter an (siehe auch die Ausführungen im vorangegangenen Abschnitt).

Dagegen spiegelt z. B. die Firmenstruktur in den USA das Finanzsystem wider: ein hoher Anteil an (großen) Unternehmen in Wachstumsbranchen bei gleichzeitig hoher Verfügbarkeit von wachstumsbezogenem Kapital. Es zeigt sich also, dass für die Etablierung einer noch stärkeren Wachstumskultur in der deutschen Wirtschaft die stärkere Verfügbarkeit von Risikokapital und damit alternativer Finanzierungs­formen (neben Equity Finance auch Mezzanine Capital oder alternative Formen des Debt Funding) eine wichtige Voraussetzung ist.

2.3 Börsennotierungen deutscher Unternehmen im Ausland und die Folgen für die deutsche Wirtschaft

Im vorangegangenen Abschnitt wurde ein ausführlicherer Blick auf das im internationalen Vergleich sehr geringe Risikokapitalvolumen in Deutschland geworfen. Inwieweit hat gerade ein Rückstand im Bereich Public Equity Konsequenzen für die deutsche Wirtschaft? So könnte durchaus argumentiert werden, dass in einem vollständigen, effizienten internationalen Kapitalmarkt die Finanzierung der Unternehmen verlustfrei über ausländische Aktienmärkte erfolgen kann. Dies mag aus Sicht des einzelnen Unternehmens zwar so sein, eine genauere Betrachtung zeigt aber, dass die „Abwanderung“ deutscher Firmen an ausländische Börsen aus gesamtwirtschaftlicher, industriepolitischer Perspektive durchaus negative Folgen hat.

Vor allem seit 2019 gibt es einen Trend bei deutschen Unternehmen, die Platzierung ihrer Aktien nicht an einer deutschen, sondern einer im Ausland ansässigen Börse vorzunehmen. So stieg der Anteil ausländischer Börsen an der Anzahl aller Initial Public Offerings (IPO) deutscher Unternehmen in den vergangenen Jahren. Die Liste der Firmen, die in den letzten Jahren einen IPO an einer ausländischen Börse vollzogen haben, zeigt dabei ein klares Branchenmuster: 52 % sind Bio­technologiefirmen, 19 % IT/Internet/ E-Commerce, 6 % Chemie­unternehmen. Gleichzeitig ist das Bild für IPOs an deutschen Börsen sehr divers. 24 % der Unternehmen kommen aus dem IT-/Internet-/E-Commerce-Bereich, 16 % aus dem verarbeitenden Gewerbe und 16 % aus dem Finanzsektor.16 Interessant ist hierbei, dass der Anteil grenzüberschreitender IPOs am Gesamtemissionsvolumen deutlich geringer ist als bezogen auf die reine Anzahl. Insgesamt streben damit immer mehr primär kleinere Firmen aus sehr innovativen, wachstumsorientierten Branchen eine Börsennotierung im Ausland an.

Zwei Aussagen von verantwortlich handelnden Personen aus dem Biotechnologie­bereich fassen die Gründe für die verstärkte Auslandsorientierung deutscher Unternehmen deutlich zusammen. So erklärte Uğur Şahin, CEO von BioNtech SE (mit Sitz in Mainz, seit 2019 an der US-amerikanischen Nasdaq gelistet): „Nasdaq ist seit Jahren der Marktplatz für innovative, technologie­fokussierte Unternehmen und war deshalb die erste Wahl für uns.“17 Dietmar Hopp, Investor bei Curevac N.V. (mit Sitz in Tübingen, seit 2020 an der Nasdaq gelistet), wird noch deutlicher: „[Biotech‑]Unternehmen sind angesichts des [in den USA] deutlich günstigeren Investorenumfelds und der aktienrechtlichen Restriktionen hierzulande gezwungen [im Ausland an die Börse zu gehen]“18.

Allgemein betrachtet, lassen sich die Gründe in drei Kategorien zusammenfassen.19 (1) Strategische Faktoren: Unternehmen, bei denen der deutsche Markt keine dominierende Rolle einnimmt, orientieren sich bei ihrer Börsennotierung auf mögliche ausländische Märkte, um dort die Nähe zum Kundenstamm und die Sichtbarkeit für potenzielle Investoren zu erhöhen. Auch bedingt die mangelnde Präsenz bestimmter Branchen auf dem deutschen Kapitalmarkt (insbesondere im Bereich der Biotechnologie) eine Marktmigration ins Ausland, um insgesamt eine höhere Sichtbarkeit zu erreichen. (2) Anlegerbezogene Faktoren: Geringere Volumina und begrenzte Verfügbarkeiten von Mitteln auf dem deutschen Kapitalmarkt decken den Bedarf der Unter­nehmen nicht. Auch führt geringeres Finanz-Know-how, vor allem in ausgewählten innovativen Sektoren, zur Anwendung ungeeigneter Entscheidungskriterien und damit zu Nachteilen bei der Unternehmensbewertung im Vergleich zu anderen Börsen. (3) Regulatorische Faktoren: In Deutschland börsenfähige Rechtsformen bieten gerade bei der Beschaffung von zusätzlichem Kapital über Sekundäremissionen weniger Flexibilität. Auch engen z. B. das Verbot von Mehrstimmrechtsaktien20 und Einschränkungen bei Kapital­erhöhungen21 Unternehmen zusätzlich ein.

Börsennotierungen deutscher Unternehmen im Ausland können für den Wirtschaftsstandort Deutschland signifikante Konsequenzen haben. Eine tiefer gehende, quantitative Untersuchung aller Börsengänge der letzten zehn Jahre belegt dies deutlich. Sie analysiert die Umsatz­entwicklung deutscher Unternehmen mit einem IPO zwischen 2013 und 2020, getrennt nach inländischen und ausländischen Emissionen, jeweils drei Jahre vor und nach Börsen­notierung. Abbildung 4 fasst die wesentlichen Ergebnisse zusammen.

Abbildung 4: Pre- und Post-IPO-Entwicklung deutscher Unternehmen22

Obwohl die betrachteten Firmen von einem sehr ähnlichen Umsatzwachstums­niveau starten (deutsche Unternehmen mit einem IPO in Deutschland erreichen in den drei Jahren vor dem Börsengang ein durchschnittliches jährliches Umsatzwachstum von 6,6 %, deutsche Unter­nehmen mit einem IPO an einer ausländischen Börse 7,4 %), wachsen Unternehmen in den Jahren nach einem IPO im Ausland plötzlich deutlich stärker (19,1 % durchschnittliches jährliches Umsatzwachstum zu 11,7 % bei inländischen IPOs).23 Noch gravierender fällt der Unterschied mit Blick auf die geografische Ausrichtung der Unternehmen aus. So bleibt der Anteil des Umsatzes in Deutschland bei IPOs an einer deutschen Börse über die Zeit konstant. Unternehmen mit einem IPO im Ausland starten nicht nur mit einer sehr viel geringeren Bedeutung des Deutschlandgeschäfts, sie verlagern nach dem Börsengang ihren Fokus zunehmend in andere Märkte. Dieses Ergebnis wird auch in der weiteren wissenschaftlichen Literatur bestätigt.24

Zusammenfassend wachsen Unternehmen mit grenzüberschreitendem IPO nicht nur schneller, nachdem sie Public Equity erhalten haben, sie haben auch die Tendenz, ihr Geschäft zunehmend weg aus Deutschland in andere Länder zu verlagern. Dies mag in der Natur der betroffenen Unternehmen liegen, führt aber zu negativen Auswirkungen auf die deutsche Wirtschaft. So wird Wachstum – gerade in Phasen der Stagnation – durch herausragende Innovationen stimuliert. Verlassen jedoch innovative Unternehmen (und damit Köpfe) das Land aufgrund unzureichender Risikokapitalfinanzierung, leidet das Wachstumspotenzial der gesamten Wirtschaft.

2.4 Der Zusammenhang zwischen privater Aktienkultur und (staatlichem) Rentensystem

Deutschland besitzt eine wenig ausgeprägte private Risiko- und Kapitalmarktkultur. Diese auf den ersten Blick etwas harsch wirkende Bestandsaufnahme lässt sich anhand ausgewählter Zahlen klar belegen. So ist das Geldvermögen der privaten Haushalte zu fast 60 % in risiko­armen Assetklassen wie Bargeld, Einlagen und Lebensversicherungen gebunden. Der Aktien- und Investmentfondsanteil liegt dagegen bei nur 27 %; der Rest verteilt sich auf Pensions­fonds und andere Schuldtitel. In den USA ergibt sich ein entgegengesetztes Bild: Aktien und Investmentfonds bilden den größten Anteil mit 54 %, auf Bargeld, Einlagen und Lebens­versicherungen entfallen nur 18 %. Im Vereinigten Königreich dominieren ebenfalls kapitalmarkt­orientierte Pensionsfonds (47 %). Interessant ist, dass die Anteile insgesamt auch über längere Betrachtungszeiträume relativ stabil bleiben. Das heißt, die grundsätzlichen Anlage­muster werden weniger von wirtschaftlichen Ereignissen, sondern mehr von Kultur und Einstellung der privaten Haushalte gegenüber Assetklassen bestimmt.25

Trotzdem lässt sich auch in Deutschland eine Veränderung in der Aktienkultur feststellen – insbesondere bei der jüngeren Generation. Zwischen 2015 und 2022 stieg der Anteil der Aktieninhabenden in der Altersgruppe der 20- bis 29-Jährigen um 208 %.26 Dies deutet u. a. auf ein wachsendes Bewusstsein für die Notwendigkeit privater Altersvorsorge hin.

Eine wesentliche Erklärung der grundsätzlichen Risikokultur und Kapitalmarktorientierung privater Haushalte in unterschiedlichen Ländern liefert ein genauerer Blick auf die jeweiligen Rentensysteme und die dort herrschenden teils fundamentalen Strukturunterschiede. Das deutsche Rentensystem wird dominiert von der gesetzlichen, umlagefinanzierten Renten­versicherung. Das durchschnittliche Einkommen von Rentner:innen in Deutschland besteht zu 76 % aus den Leistungen der gesetzlichen Rente. 9 % stammen aus Gehältern (z. B. im Rahmen einer fortgesetzten Arbeitstätigkeit auch nach Rentenbeginn), nur 8 % aus der betrieblichen Rente und 7 % aus Privatinvestitionen. Das Rentensystem im Vereinigten Königreich ist dagegen eine Kombination aus staatlicher und betrieblicher Rente. Der staatliche Anteil wird finanziert über National-Insurance-Beiträge, ein Umlagesystem ohne Investition in Kapitalmärkte, der betriebliche Anteil über eine obligatorische Betriebsrente für Beschäftigte, deren Beiträge über Fonds angelegt werden können. Dies hat zur Folge, dass das Einkommen britischer Rentner:innen „nur noch“ zu 57 % aus staatlichen Zahlungen und zu 28 % aus Betriebsrenten besteht (der Rest verteilt sich auf Gehälter und private Investitionen). Im internationalen Vergleich zeigt die USA ein erwartetes Muster mit dem geringsten Anteil an staatlichen Leistungen (54 %), 19 % aus Gehältern und 27 % der Renten aus privater Vorsorge.27

Mit Blick auf die Kapitalmarktkultur kann festgestellt werden, dass das Verhalten privater Haushalte der Struktur des Rentensystems folgt. Es gibt über verschiedene internationale Märkte hinweg eine deutliche Korrelation zwischen dem allgemeinen Anteil von Aktien und Investmentfonds an den gesamten finanziellen Vermögenswerten privater Haushalte und dem Vermögen in kapitalmarktnahen Rentenbestandteilen (Abbildung 5).

Abbildung 5: Korrelation zwischen Pensionsfonds und privater Beteiligung an Kapitalmärkten28

Die grafische Ableitung verdeutlicht, dass verpflichtende Pläne oder kapitalgedeckte Renten in bestimmten Ländern eine indirekte bzw. direkte Kapitalmarktbeteiligung deutlich erhöhen. Insbesondere ein grundlegender Wechsel des Rentensystems von einem staatlichen Umlage­system hin zu einem kapitalgedeckten Modell bringt auch private Haushalte dazu, in Aktien zu investieren. So ist z. B. in Schweden, wo dieser Wechsel im Jahr 2000 vollzogen wurde, der Anteil von Aktien und Investmentfonds an den Finanzanlagen privater Haushalte von 31 % im Jahr 1995 auf mittlerweile 48 % (2020) angestiegen.29

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die kulturellen Einstellungen und die Struktur des Rentensystems in Deutschland eine direkte Beteiligung am Kapitalmarkt beeinflussen. Während eine breitere Aktienkultur entsteht, bleibt die Frage offen, ob das deutsche Renten­system eine umfassendere Beteiligung verhindert. Zukünftige Veränderungen im Renten­system könnten die private Kapitalmarktbeteiligung weiter fördern und damit zusätzlich die finanzielle Sicherheit im Alter verbessern. Ein erster Schritt wurde mit der Einführung des sog. „Generationenkapitals“ in 2024 getan.30 Für eine wirkliche Veränderung der Aktienkultur in Deutschland müssen weitere Schritte folgen.

2.5 Verbriefungen – ein Weg für Anleger zu deutschen KMU

Grundsätzlich gibt es mehrere Wege für Anleger, direkt in KMU zu investieren. Neben Aktien und Anleihen existieren die Instrumente Private Equity, also nicht öffentliches Beteiligungskapital inklusive Risiko- und Wachstumskapital, sowie Mezzanine-Kapital, welches die Eigenschaften von Eigen- und Fremdkapital verbindet und Laufzeiten von meist mehr als fünf Jahren beinhaltet. 

Tatsächlich werden Kapitalmarkt- und Beteiligungsfinanzierungen jedoch nur von einer Minderheit der KMU als mögliche Finanzierungsquellen angesehen. In einer Befragung geben 3 % (5 %) der Unternehmen mit Finanzierungsbedarf an, dass sie den Kapitalmarkt (Private Equity) als Finanzierungsquelle in Betracht ziehen. Bankkredite werden dagegen von 85 % der Unternehmen mit Finanzierungsbedarf berücksichtigt.31 Die Haupthindernisse für Kapital­markt- und Beteiligungs­finanzierungen sind das dominante Bankensystem, der geringe Anteil börsennotierter Unternehmen sowie ein grundsätzlich intransparenter und regional verstreuter Markt. Die Kernfrage lautet daher, inwieweit es für Investoren indirekte Wege gibt, z. B. mittels verbriefter Bankkredite über Kapitalmärkte, um in KMU investieren zu können.

Schuldscheindarlehen sind eine deutsche Besonderheit, welche die Eigenschaften von Darlehen und Anleihen vereinen und Direktinvestitionen in KMU-Kredite erlauben. Sie sind unbesichert begebene Darlehen mit geringen Dokumentations­anforderungen, die von mehreren Anlegern finanziert werden können. Banken sind mit einem Marktanteil von etwa 80 % meist Arrangeur und Investor. Die verbleibenden 20 % der Investoren rekrutieren sich hauptsächlich aus Versicherungsgesellschaften, Pensionskassen, Fonds und Family Offices. Häufig fungiert der Arrangeur als Erstkreditgeber und überträgt anschließend einzelne Tranchen an Investoren. Typische Volumina rangieren zwischen 20 und 500 Mio. EUR mit Laufzeiten zwischen zwei und zehn Jahren.32

Schuldscheindarlehen bieten den Vorteil, dass sie leicht von einem Gläubiger auf den anderen zu übertragen sind. Allerdings werden sie nicht öffentlich gehandelt. Gleichzeitig sind ihre Emissionen mit einem im Vergleich zu beispielsweise Anleihen geringeren bürokratischen Aufwand verbunden und daher günstiger. Verglichen mit Krediten können Unternehmen meist höhere Finanzierungs­volumina wählen.

Als Herausforderung stellen sich dagegen die im Vergleich zu Anleihen höheren Finanzierungs­kosten dar, welche aus dem Fehlen von Sicherheiten und der implizierten Illiquidität resultieren. Außerdem erlauben die festen Laufzeiten keine vorzeitige Rückzahlung.

Die mit Schuldscheindarlehen auch für höher verschuldete Firmen verbundene Möglichkeit, Kredite zu erhalten, ist ein erklärender Faktor für das relativ hohe Volumen in Deutschland. Im Jahr 2022 wurden beispielsweise Schuldschein­darlehen in Höhe von insgesamt über 120 Mrd. EUR neu emittiert.33 Dies wiederum belastet im Umkehrschluss jedoch gleichzeitig das Volumen und die Größe des Verbriefungsmarkts.

In ihrer grundlegendsten Form – der traditionellen oder True-Sale-Verbriefung – ist die Verbriefung ein Prozess, bei dem illiquide Vermögenswerte zusammengeführt, in handelbare Wertpapiere umgewandelt und in Tranchen mit unterschiedlichem Risikoprofil aufgeteilt werden. In der Regel verkaufen Banken Kredite aus ihrer Bilanz an eine Zweckgesellschaft, die den Kauf der Kredite durch Ausgabe von Anleihen an institutionelle Anleger finanziert. Institutionelle Anleger tragen ein Risiko je nach eigener Risikobereitschaft, jedoch haben Banken eine Selbstbehaltanforderung von mindestens 5 %. Da sie öffentlich gehandelt werden, sind Verbriefungen leicht übertragbar und entsprechend liquide. Verbriefungen stellen eine Investition in viele Unternehmen dar und nicht in ein einziges wie im Falle von Schuldschein­darlehen. Abbildung 6 zeigt die in Deutschland platzierten Verbriefungs­emissionen pro Jahr. Dabei wird deutlich, wie stark das Verbriefungsvolumen nach der Finanz­krise zurückging und dass seitdem noch keine vollständige Erholung stattgefunden hat. Während das Volumen im Jahr 2008 noch knapp 37 Mrd. EUR betrug, pendelt es seit 2010 nur noch zwischen circa sieben und 16 Mrd. EUR.34

Zu den Vorteilen von Verbriefungen zählt, dass sie als Refinanzierungsquelle für Banken dienen und dort gleichzeitig – sofern die Verbriefungen die aufsichts­rechtlichen Kriterien für einen signifikanten Risikotransfer (SRT) erfüllen – Kapital freisetzen und damit Spielräume zur Finanzierung der Realwirtschaft schaffen. Außerdem bieten Verbriefungen Banken ein weiteres Instrumentarium zum Umgang mit notleidenden Engagements und die Möglichkeit, mehr Kapital in das KMU-Marktsegment fließen zu lassen. Als Herausforderung für Verbriefungen betonen Marktfachleute, dass die präskriptive Regulierung das Wachstum des europäischen Verbriefungsmarkts deutlich einschränkt.

Seit der globalen Finanzkrise hat die EU versucht, den europäischen Verbriefungsmarkt durch Umsetzung der Verbriefungsverordnung (EU 2017/2402, „SECR“) im Jahr 2019 wiederzubeleben. Mit der SECR wurde u. a. der Rahmen für einfache, transparente und standardisierte Verbriefungen (STS) geschaffen. Obwohl der SECR einen internationalen „Goldstandard“ für STS- und Nicht-STS-Verbriefungen geschaffen hat, betonen Marktfachleute, dass bestimmte Aspekte des regulatorischen Rahmens gezielte Anpassungen erfordern, damit der Markt wachsen kann. Zwar ist der politische Wille vorhanden, wie der deutsch-französische Fahrplan für die Kapitalmarktunion zeigt, in dem betont wird, dass „einige regulatorische Ungleich­gewichte das volle Potenzial dieses Instruments zur Finanzierung der Wirtschaft einschränken könnten“, doch sei auch eine vollständige Angleichung durch die Aufsichts­behörden erforderlich, um solche Verbesserungen des regulatorischen Rahmens tatsächlich zu erzielen.

Abbildung 6: Platzierte Verbriefungsemissionen pro Jahr (in Mrd. EUR)

Ein größerer Verbriefungsmarkt kann letztlich insbesondere dabei unterstützen, die Finanzierung für KMU zu verbessern; so kann ein wesentlicher Beitrag zur Realwirtschaft geleistet werden. Er schafft zudem die Möglichkeit zur aktiven Steuerung des Risiko-Ertrags-Verhältnisses einer Bank – mit positiven Folgen für die allgemeine Stabilität des Finanzsystems.

3 Fazit und Ausblick

Zusammengefasst liefert unsere umfassende Studie zur Rolle der Kapitalmärkte in Deutschland drei Hauptergebnisse.

Zunächst ist zu konstatieren, dass es den Kapitalmärkten in Deutschland tatsächlich an Größe (gerade auch relativ zur Realwirtschaft) und Relevanz fehlt. Ihre Bedeutung bleibt in vielen entscheidenden Punkten hinter anderen Ländern zurück – nicht nur hinter dem Vereinigten Königreich und den USA, sondern zum Teil auch im kontinentaleuropäischen Vergleich (speziell ggü. Frankreich). Die Studie belegt auch, dass eine größere Rolle der Kapitalmärkte eigentlich dringend erforderlich ist. Die großen finanziellen Herausforderungen der Zukunft (nachhaltige Transformation und Digitalisierung) können in Deutschland nicht allein innerhalb des bestehenden bankendominierten, kreditfokussierten Finanzsystems gelöst werden – unabhängig davon, wie gut das deutsche System derzeit ist und wie passend es die wirtschaftliche und politische Struktur abbildet. Die Kapitalmärkte können damit einen Beitrag zur Bewältigung der zukünftigen Herausforderungen in Deutschland leisten. Die vorliegende Untersuchung identifiziert und formuliert erste konkrete Ansätze für die Entwicklung der Kapitalmärkte in Deutschland: Schwerpunkte liegen auf dem Themenfeld Risikokapital und seinen Auswirkungen auf Wachstum und Innovation deutscher Unternehmen sowie den Überlegungen zur weiteren Etablierung und Verbreiterung einer Aktienkultur in Deutschland. Ein weiterer Hauptpunkt für die Verbreitung der Kapitalmärkte wird die Umsetzung der bereits lange diskutierten Kapital­marktunion in Europa sein. Auch gibt es, angestoßen durch die aktuelle Bundesregierung, mit dem Zukunftsfinanzierungsgesetz und dem Konzept des Generationenkapitals erste konkrete Ansätze zur Stärkung der Kapitalmärkte. Weitere Schritte sind nicht nur politisch opportun, sondern gerade auch ökonomisch sinnvoll. Die Analyse zeigt dies deutlich auf.

Über die Autoren

Prof. Dr. Stefan Kirmße ist Gründungspartner von zeb und war von 1998–2014 Partner und Geschäftsführer sowie von 2015–2020 erster Managing Director. Er ist habilitierter Diplom-Kaufmann sowie Professor für allgemeine Betriebswirtschaftslehre (insbesondere Bankmanagement) an der Steinbeis-Hochschule und daneben Autor einer Vielzahl von Studien und Artikeln. 


Dr. Ekkehardt Bauer ist Senior Manager und Teamleiter im zeb.research. Seit über 25 Jahren ist er Autor zahlreicher Studien und Artikel zu den thematischen Schwerpunkten Groß-, Wholesale- und Privatbanken, internationale Banken- und Kapitalmärkte sowie der volkswirtschaftlichen Entwicklung. 


Dr. Christoph Ostermair ist Consultant bei zeb und im Embedded Research tätig. Seine thematischen Schwerpunkte sind volkswirtschaftliche und kapitalmarktbezogene Analysen sowie Simulationen und Forecasts.