Dr. Patrick Kuchelmeister

Industrialisierung im Bankbereich

Owning Your Brand’s Social Community Drives More Shoppers and Sales


Einleitung

Trotz der Risiken, die – im Gegensatz zu überarbeiteten Neuauflagen – mit Fortsetzungen verbunden sind, wird mit dem vorliegenden Aufsatz versucht, den Beitrag mit dem Titel  

 „Industrialisierung – eine internationale Literaturstudie zur wissenschaftlichen Bestandsaufnahme von Chronologie, Begriffsdefinition und Authentizität und deren Auswirkungen im Bankbereich“

aus dem Jahre 2012 fortzuführen. Das Risiko, dass Lesende des vorliegenden Sequels vielleicht enttäuscht sein werden, ist aber vielleicht vertretbar angesichts dessen, dass es im Rahmen einer Festschrift eingegangen wird. Denn in diesem Format darf ein Thema eher zumindest teilweise auch essayistisch bearbeitet werden als insbesondere in Lehrbüchern, zu denen Prof. Dr. Lister über viele Jahrzehnte mindestens beigetragen hat bzw. deren Co-Autor er ist.1

Nach Ansicht des Autors ist ein essayistischer Freiraum nicht zuletzt angesichts der technologischen (oder technologisch angestoßenen) Beschleunigung hilfreich, die in den letzten Dekaden zu konstatieren ist und im weiteren Verlauf des Aufsatzes in Grund­zügen nachgezeichnet werden wird. Denn in praktisch allen Lebens­bereichen ist in den letzten knapp zwei Jahrzehnten eine Durchdringung mit Informations­technologie und – damit nahezu symbiotisch verbunden – eine Tempozunahme zu verzeichnen. Als Folge davon ist es nach Ansicht des Autors deutlich schwieriger geworden, mit den teilweise nicht nur beschleunigten, sondern bisweilen sogar disruptiven Entwicklungen in Politik, Gesellschaft und Wirtschaft – und damit auch im Bankbereich – empirisch-induktiv beschreibend Schritt zu halten.

Der o. g. Aufsatz zum Thema Industrialisierung im Bankbereich, an den mit dem nachfolgenden Text angeknüpft werden soll, schloss mit dem Fazit, dass in der zugehörigen Fachliteratur bis etwa 2011

  • im Bankensektor […] Industrialisierungskonzepte und ‑maßnahmen in Abhängigkeit von der jeweils betrachteten Stufe der Wertschöpfungskette stark [differieren],
  • verwendete Kennzahlen der Industrialisierung […] teils quantitativer und teils qualitativer Art [sind] sowie
  • Chancen und Risiken der Industrialisierung im Bankensektor […] 
    1. weder auf einer in der seinerzeit analysierten Literatur für die Banken­effizienz vorgeschlagenen, eindimensionalen Skala des Input-Output-Verhältnisses2 dargestellt
    2. noch anhand risikoadjustierter Renditebeiträge gemessen3 

 werden konnten.

Das bedeutete faktisch, dass der Begriff „Industrialisierung“ im Bankbereich bis etwa 2011 zwar nicht nur ein bloßes „Buzzword“ war, aber am ehesten als Sprachbild bzw. Leitmotiv zu verstehen war.

Dem vorliegenden Aufsatz liegt ein anderes Vorgehen zugrunde, nämlich die Beschäftigung mit der Frage, ob die Umsetzung der in den letzten gut 15 Jahren beobachtbaren Veränderungen im Bankensektor möglich gewesen wäre ohne zentrale Elemente von Industrialisierung (Automatisierung, Standardisierung, Spezialisierung).

1 Industrialisierung der Realwirtschaft

1.1 Begriffsklärung und grundlegende Effekte von Industrialisierung 

Abgeleitet vom lateinischen Substantiv „industria“ (Beharrlichkeit, Fleiß, Betriebsamkeit) bzw. vom zugehörigen Adjektiv „industrius“ fand etwa 1754 der Begriff „industrie“ als gleichbedeutendes Adjektiv Eingang in die französische Sprache. Der schottische Ökonom Adam Smith übernahm es 1776 in seinem Buch „Der Wohlstand der Nationen“ als „industry“. Dessen Übersetzung ins Deutsche lautete im selben Jahr „Großgewerbe“.

Angesichts dessen, was im heutigen Sprachgebrauch unter „Industrie“, „industriell“ etc. verstanden wird, ist der Bedeutungswandel recht gering. Denn die indus­trialisierte Produktion von Gütern lässt sich in der Tat als „beharrlich“ bezeichnen, weil die in der Industrie zum Einsatz kommenden Maschinen bzw. Automaten bei den sich monoton wiederholenden Tätigkeiten i. d. R. zeitlich und qualitativ ausdauernder sind als der Mensch.

Aus historischer und soziologischer Perspektive wird unter Industrialisierung die Transformation von zuvor überwiegend agrarisch geprägten Gesellschaften zu Industriestaaten bezeichnet. Voraussetzung und Kern dieser Verwandlung ist die Ablösung von zwar werkzeugunterstützter, aber prozessual dennoch vorrangig manueller Urproduktion (Land- und Forstwirtschaft, Fischerei, Bergbau) und handwerklicher Fertigung von Gütern durch mechanische bzw. maschinelle Unterstützung dieser – im weiten Sinne – Produktionsprozesse.

Schon eine solche kurze Charakterisierung lässt das Veränderungspotenzial erkennen, das in Industrialisierung steckt. Denn trotz Werkzeugunterstützung ist die Produktivität manueller bzw. handwerklicher Arbeit aus heutiger Sicht vergleichsweise gering. Dies hat zur Folge, dass ohne bzw. vor der Industrialisierung die Erzeugung bzw. Herstellung derjenigen Güter im Vordergrund steht, die zur Deckung der Existenz- und Grundbedürfnisse benötigt werden (insb. Nahrung, Kleidung, Wohnraum, Gewinnung von Brennstoffen zur Wärmeerzeugung).4

Aber bereits dann, wenn diese Produktionsprozesse organisatorisch rationalisiert und insbesondere mechanisiert und automatisiert werden (vgl. nachfolgender Abschnitt 1.2), ergeben sich c. p. zum einen existenzielle Verbesserungen (z. B. bessere und/oder preiswertere Versorgung mit Kleidung seit der Verfügbarkeit von Spinnmaschinen und mechanischen Webstühlen ab Ende des 18. Jahrhunderts). Zum anderen werden ökonomische Spielräume eröffnet, weil zur Erzeugung bisheriger Produktionsmengen c. p. weniger menschliche Arbeitszeit und ‑kraft benötigt werden, sodass die rechnerisch freigesetzten bzw. freisetzbaren Kapazitäten (re)investiert werden können. Abstrakter formuliert, werden durch technische Unterstützung und Mechanisierung Engpässe geweitet. Ein im Grundsatz ähnlicher Effekt tritt gesamtwirtschaftlich ein, wenn z. B. die Herstellung von Werkzeugen mechanisiert wird.

Die soeben geschilderten Veränderungsprozesse verstärken sich selbst, wenn bzw. sobald die Produktion von Werkzeugen oder Maschinen ihrerseits werkzeug- oder maschinenunterstützt werden kann.

1.2 Standardisierung, Spezialisierung und Automatisierung als Schlüssel­elemente der realwirtschaftlichen Industrialisierung5

Bereits die Mechanisierung und erst recht die Automatisierung von Produktions­prozessen physischer Güter sind aus Herstellersicht nur interessant, wenn mehrere bis viele Exemplare derselben oder eng verwandter Güter entweder existenziell benötigt oder zumindest nachgefragt werden, sodass bei ihrem – in der Total­periode vollkostendeckenden – Absatz die für den Technik­einsatz erforderlichen Ausgaben wieder eingespielt werden können.

In grundsätzlich funktionierenden Marktwirtschaften kommen Produktivitäts­steigerungen, die Herstellungsprozesse und -kosten durch Rationalisierungen, Skalen- und Verbundeffekte (sog. Economies of Scale6 und Economies of Scope7) erfahren können, sowohl den Anbietern als auch den Nachfragern von Gütern zugute, sei es durch bessere Verfügbarkeit, geringere Preise oder höheren Gewinn. Daher liegt das Zustandekommen von Nachfrage­mengen, die durch hinreichende Größe Investitionen in Produktionsmechanisierung bzw. ‑automatisierungen anstoßen, im Interesse beider Marktseiten. Diese Anreiz­konstellation begünstigt oder bewirkt oftmals ein zumindest implizites Einvernehmen zwischen Anbietern und Nachfragern bezüglich (Bandbreiten‑)Standardisierungen von Gütern.

Daher ist Industrialisierung ohne ein Mindestmaß an Standardisierung praktisch nicht vorstellbar. Standardisierung umfasst hierbei auch die Normierung von Teilen und Verfahren. Eine Zusammenfassung einzelner Teile zu Fertigungs­elementen und einzelner Arbeitsabläufe zu einheitlichen Prozessen führt zur Reduzierung der Produktionszeit und ‑kosten. Sie erleichtert zudem Kooperationen über Abteilungs- und Unternehmens­grenzen hinweg. Gleichzeitig leistet sie einen Beitrag, Qualitätsnormen und Kontrollmechanismen zu verbessern.8

Angesichts dieser Effekte kann bei hinreichend großen Nachfragemengen Standardisierung Spezialisierungen nach sich ziehen. Spezialisierung erhöht ihrerseits den Grad der Arbeits­teilung, und infolge der mit ihr praktisch synonymen Konzentration auf ein Set von (Kern‑)Kompetenzen ebnet auch sie den Weg für die Automatisierung von Produktions­prozessen. Komplexe Abläufe werden in einzelne, unmittelbar miteinander verbundene Teilaufgaben und ‑prozesse zerlegt und an ausgewählte Organisationseinheiten delegiert, die ausschließlich die vordefinierte Aufgabengruppe übernehmen. Dies führt im Idealfall zu einer Steigerung der Expertise innerhalb dieser Einheit, auch und gerade im Hinblick auf Werkzeug­unterstützung und ‑einsatz bis hin zu Mechanisierung und Automatisierung. Als Kehrseite zunehmender Arbeits­teilung bzw. Spezialisierung können allerdings insbesondere die Koordinations­komplexität sowie gegen- oder einseitige Abhängigkeiten zunehmen. Aus institutionsökonomischer Sicht steigen dann die Transaktions(risiko)kosten.9

Wegen der ihr immanenten Reduktion bzw. Abkehr von manueller Fertigung ist Automatisierung das wohl augenscheinlichste Element von Industrialisierung, sie setzt aber i. d. R. zumindest Standardisierung, ggf. auch Spezialisierung voraus.10

1.3 Vom mechanischen Webstuhl zur Automation von Produktionsprozessen: 200 Jahre Industrialisierung im Schnelldurchlauf

Im Rahmen der rückschauenden Beschreibung von Industrialisierung hat sich ein Stufen­modell etabliert, in dem sie wie Software mit Versionsnummern versehen wird.

Die Stufe „Industrie 1.0“ wird auf das Ende des 18. Jahrhunderts datiert, oftmals sogar konkret auf das Jahr 1784, in dem Edmund Cartwright den mechanischen Webstuhl namens Power Loom erfunden hat. Die damit verbundene Produktivitäts­steigerung beim Weben wäre aber ohne die vorherige Einführung der Spinn­maschine „Spinning Mule“ mindestens ein‑, wenn nicht sogar ausgebremst worden.

Ungefähr 1870 wurde die nächste große Stufe „Industrie 2.0“ erreicht, als die erste Fließband­produktion gestartet wurde. Ihr industriegeschichtlicher Stellenwert, speziell die trotz Verteilungsungleichheiten gesamtwirtschaftlich festzustellende Wohlstands­steigerung, darf als bekannt vorausgesetzt werden.

Bis zum nächsten Meilenstein „Industrie 3.0“ vergingen erneut etwa 100 Jahre, bis nämlich 1969 die erste Speicherprogrammierbare Steuerung (SPS) entwickelt wurde. Das Anwachsen und die marktliche Verfügbarkeit von Rechnerkapazitäten für zumindest zentrale Daten­verarbeitungen ermöglichten die Automation der Produktionsprozesse. Die Prozess­automation wurde kontinuierlich weiter­entwickelt und stellte eine relevante Voraussetzung für den Entwicklungs­prozess der Digitalisierung dar (Sensoren, PPS etc.).

Eine Visualisierung und Fortsetzung des Stufenmodells finden sich als Abbildung 1 im Abschnitt 2.3, da  

  • der Meilenstein, mit dem die nächste Stufe „Industrie 4.0“ assoziert wird, nämlich die Verbreitung dezentraler, aber vernetzter Datenverarbeitung, und 
  • seine Folgen 

Ausgangspunkt des nächsten Abschnitts 2 sind.

2 Zusammenwachsen von Informations- und Kommunikationstechnologie und Durchdringung fast aller Lebensbereiche

Da – wie in Abschnitt 3.1 näher ausgeführt werden wird – Bankprodukte praktisch nie um ihrer selbst willen nachgefragt werden, sondern sprichwörtlich nur Mittel zum Zweck sind, ist es nach Ansicht des Autors sinnvoll, Veränderungen der Bankenbranche im Kontext bzw. als Reflex gesellschaftlicher Veränderungen zu sehen.

Als wesentliche Gabelung wird im vorliegenden Abschnitt das Vordringen von Informations- und Kommunikationstechnologie in fast alle Lebensbereiche beleuchtet werden, das seit mehr als 15 Jahren beschleunigt stattfindet.


2.1 Integration von Informations- und Kommunikationstechnologie: der Siegeszug des Smartphones

Fortschritte im Bereich Informations- und Kommunikationstechnologie waren bzw. sind in der Regel auf die Miniaturisierung der für sie notwendigen Bauteile zurückzuführen. Denn durch Miniaturisierung lassen sich die beiden operablen klassischen Stoßrichtungen von Effizienz­steigerungen geradezu beispielhaft umsetzen, nämlich

  • entweder „gleiche Leistung bzw. gleicher Output bei weniger Input“ 
  • oder „mehr Leistung bzw. Output bei gleichem Input“.

Vielleicht (nicht) nur in der Wahrnehmung des Autors wurde bis zum Ende der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts die Miniaturisierung von Bauteilen der Kommunikationstechnologie, die zudem sukzessive leistungsstärker wurden, tendenziell intensiver zur Verkleinerung von Kommunikationsgeräten genutzt. Als Beispiel ist die Schrumpfung von Mobiltelefonen in ihren äußeren Dimensionen seit Einführung digitaler Netze Anfang der 1990er-Jahre zu nennen.11

Im Jahr 2007 wurde dann jedoch ein zunächst alternativer Entwicklungspfad eröffnet, dessen Erfolg nicht feststand:

Das vom Apple-Gründer Steve Jobs am 09.01.2007 vorgestellte iPhone der ersten Generation hatte größere Ausmaße als seinerzeit verfügbare konventionelle Mobiltelefone. Aber es war – im Gegenzug zum Zuwachs in Länge, Breite und Gewicht – über die Telefon- und Internet­konnektivität hinaus nun auch als Mikrocomputer (einschließlich „intelligenter“ durch kontextabhängige virtuelle Tastatur auf dem Touchscreen) leistungsstark genug, um auf ihm ein update­fähiges Betriebssystem zu implementieren, für das sich Anwendungs­software entwickeln lässt, die aus Kundensicht relevant ist. Da die Firma Apple bis dato keine Mobil­telefone hergestellt hatte, stellte das iPhone also nicht bloß ein signifikant besseres Telefon dar, sondern definiert seitdem einen neuen Geräte­typus, an den wir uns heute unter dem Namen „Smartphone“ gewöhnt haben.12

In der Ex-post-Betrachtung ermöglichte die Integration von Informations- und Kommunikations­technik in handliche Geräte, deren Maße und Gewichte sich zwischen Portemonnaies und Brieftaschen bewegen, die Entwicklung mobil nutz- und vernetzbarer Software durch Anbieter, die nicht mindestens auch Hersteller von Mobilfunkgeräten oder/und des auf ihnen jeweils exklusiv laufenden Betriebs­systems waren bzw. sind.

Oder um es durch Nennung der wesentlichen Firmen einfacher zu beschreiben:

Indem zunächst Apple für das von ihm entwickelte iPhone und dessen Betriebs­system iOS eine Umgebung zur Softwareentwicklung bereitstellte, wurde es technisch möglich, dass im Prinzip „jeder“ Anwendungssoftware für die internet­fähigen und auch als Mikrocomputer immer leistungsstärker werdenden Smartphones entwickeln kann. Die als Suchmaschine gestartete Firma Google tat es Apple auf der Ebene des für mobile Geräte konzipierten Betriebssystems „Android“ gleich.

Der wesentliche Unterschied zwischen den heute zwei verbliebenen Biotopen „iOS“ und „Android“ besteht insbesondere darin, dass das eigentliche iOS von Apple letztlich nur auf Geräten der Firma Apple betrieben werden kann, während Google sein Betriebssystem „Android“ auch zur Implementierung auf Endgeräten lizenziert, die nicht von Google hergestellt werden.13

Seitdem das Betriebssystem eines Mobiltelefons vom physischen Gerät emanzipiert und zudem updatefähig ist, sind das Nutzer- und damit das Absatz­potenzial von Software für Mobilgeräte nicht mehr auf den Käuferkreis des jeweiligen Geräts beschränkt. Dadurch wurde zum einen die Software­entwicklung für Smartphones zu einem Geschäftsmodell, dessen Zeithorizont nicht mehr von der Verbreitung und Aktualität konkreter Geräte­modelle abhängt. Zum anderen hat die daraus resultierende Verbreiterung des Softwareangebots für Smartphones wiederum deren Popularität beflügelt, weil sie sich durch das Hinzufügen von Apps zu Werkzeugen für eine Vielzahl von Funktionen jenseits von Telefonie und Textkommunikation machen lassen. Das Smartphone ist gewissermaßen die digitale Spielart des multi­funktionalen Schweizer Offiziers­messers, und diese Stellung hat ihrerseits die Integration weiterer Hardware­features angelockt (GPS-Empfänger, Gyroskop-Sensor, Finger­abdruck­scanner etc.), sodass – wie bei maschineller Fertigung von Maschinen (vgl. Abschnitt 1.2) – sich gegenseitig verstärkende Entwicklungen einsetzen konnten. Im Ergebnis hat das Smartphone zur Überarbeitung bestehender Geschäfts­modelle (u. a. bezüglich Business-to-Consumer‑, also B2C-Schnittstellen, Zielmärkten und Geschwindigkeit) mindestens wesentlich beigetragen und die Tür zur Entwicklung neuer Geschäfts­modelle eröffnet (vgl. Abschnitt 3.2).

2.2 Durchdringung fast aller Lebensbereiche mit Informations- und Kommunikationstechnik

Vergegenwärtigt man sich, dass sich die elementaren Bedürfnisse des Menschen – Essen, Kleidung, Wohnen, notwendige Mobilität usw. – letztlich nicht digital befriedigen lassen, dann wird umso deutlicher, dass und wie sehr Informations- und Kommunikationstechnik über ihre ursprünglichen Einsatzgebiete hinaus mittlerweile in fast alle Lebensbereiche Einzug gehalten haben. Denn in zahlreichen Feldern hat sich Digitaltechnik bis kurz vor die reale Bedürfnis­befriedigung ausgebreitet. 

Viele Automatisierungen, die vor 40 Jahren (also etwa zu Ausbildungs­beginn von Prof. Dr. Lister) noch Science-Fiction waren, weil nur die seinerzeitigen Super­computer über die notwendige Rechenleistung verfügten, aber leider die Größe von Wohnzimmerschränken hatten,14 sind heute Realität. Hierzu einige Beispiele:

  • Smarte Spülmaschinen lassen sich fernsteuern und melden sich, wenn ihnen Verbrauchsmaterial fehlt.
  • Smarte Kühlschränke können ihren Inhalt überwachen und in „Rücksprache“ mit ihren Besitzenden Nachbestellungen von Lebensmitteln auslösen.
  • Smarte Haustechnik erhöht in Erwartung unserer Ankunft z. B. die Raum- und Wassertemperaturen und startet unsere Playlist für den Feierabend oder/und passt die Beleuchtung an.
  • Elektrische Zahnbürsten erinnern an das Zähneputzen, protokollieren und bewerten es.15
  • Smartwatches erheben, protokollieren und bewerten physiologische Mess­werte wie insbesondere Pulsschlag, Blutdruck und Sauerstoffsättigung des Blutes.
  • Batterieelektrische Pkw navigieren uns nicht nur zu unseren Fahrzielen, sondern schlagen bei der Routenplanung von Mittel- bis Langstrecken vor, wann und wo wir sie unterwegs nachladen können.
  • Steuerungs- und Navigationssoftware von Pkw lässt sich durch sog. Over-the-Air-Updates aktualisieren, weil moderne Pkw mittels Mobilfunk der 5. Generation nicht nur mit ihren Besitzenden, sondern auch mit ihren Herstellern vernetzt sind.
  • In Restaurants wird das Personal beim Servieren von Speisen und Getränken von Robotern unterstützt, die die Laufwege zwischen der Küche und den Tischen kennen.16
  • In Japan stehen Kranken- und Altenpflegenden zur Erleichterung und mengenmäßigen Bewältigung ihrer Arbeit Roboter zur Verfügung.17

Dreh- und Angelpunkt der meisten o. g. Beispiele sind dabei das Smartphone oder das Tablet als dessen „großer Bruder“. Auf sie lassen sich auch Anwendungen verlagern, für die bis vor einigen Jahren noch Spezialgeräte als „gesetzt“ galten, wie z. B.

  • E-Book-Reader in der Größe eines einzigen Buches, auf die sich aber dank ihrer Internetverbindung im Prinzip jeder elektronisch bereits erschienene sowie in der Zukunft erst noch erscheinende Buchtitel laden lässt, und
  • Spielekonsolen, an denen via Internet in jeder Altersklasse Multiplayer-Games mit gleichaltrigen Mitspielenden auf jedem Kontinent gespielt bzw. ausgetragen werden können, gipfelnd z. B. in E-Sport-Meisterschaften.

Pointiert formuliert kann man sagen, dass sich – sofern man eine nutzen­stiftende Verwendung dafür sieht und sowohl Stromanschluss als auch Mobilfunk­verbindung vorhanden sind – mittlerweile praktisch überall ein internetfähiger Mikrocomputer namens Smartphone anbringen lässt. Denn dieser vernetzte Kleinstrechner mitsamt seinem Full-HD-Touchdisplay und seinen zahlreichen Sensoren ist in etwa noch so groß wie ein Stapel Karteikarten des Formats DIN A6.

Diese Trendaussage ist nicht zuletzt auch deshalb in ihrer Tendenz zutreffend, weil mittlerweile als netzwerkfähige „Standrechner“ sog. Ein-Platinen-Computer mit den Abmessungen einer Zigarettenschachtel erhältlich sind, auf denen aktuelle Linux-Distributionen und auch das PC-Betriebssystem Windows 11TM lauffähig sind. Sie kosten weniger als 150 Euro (inklusive Umsatzsteuer), also deutlich weniger als Smartphones.18


2.3 Künstliche Intelligenz als wahrscheinlicher Dreh- und Angelpunkt der weiteren Entwicklung

Dem Schriftsteller Mark Twain (1835–1910) wird der Satz zugeschrieben, dass Prognosen schwierig sind, besonders wenn sie die Zukunft betreffen. Daher lohnt das Ausschauhalten nach Sachverhalten, die Anlässe für die Annahme bieten, dass – wie es der Zukunftsforscher Robert Jungk (1913–1994) ausgedrückt hat – „die Zukunft bereits begonnen hat“.

Ein solcher Sachverhalt könnte die Veröffentlichung des Chatbots ChatGPT im November 2022 sein; seither scheint der Begriff „künstliche Intelligenz“ (KI) einen Boom zu erleben. Die neuesten Generationen insbesondere von Smartphones und Tablets, aber auch von Suchmaschinen-Apps werden damit beworben, dass sie über sog. künstliche Intelligenz verfügen.

Um sich konkret ChatGPT zu nähern, bietet sich zunächst die Analyse seines Namens an:

Als Chatterbot, Chatbot oder kurz Bot wird ein textbasiertes Dialogsystem bezeichnet, das Chatten mit einem technischen System erlaubt. GPT ist die Abkürzung für „Generative Pre-trained Transformer“ (in etwa „erzeugender vor­trainierter Umformer“), bei dem es sich laut der Online-Enzyklopädie Wikipedia um eine Art großes Sprachmodell und ein bedeutendes Framework für generative künstliche Intelligenz handelt.

ChatGPT ist also dem Namen nach ein Chatbot, der sog. künstliche Intelligenz einsetzt, um mit Nutzenden über textbasierte Nachrichten und Bilder zu kommunizieren. Er nutzt zudem moderne maschinelle Lerntechnologie, um Antworten zu generieren, die natürlich klingen und für das Gespräch relevant sein sollen.

Als Resultat dieser Synthese aus Chatbot und einem generativen vortrainierten Transformer sind 

  • sowohl die Schnittstelle zwischen „Mensch und Maschine“ barriereärmer
  • als auch zumindest Ergebnisse und Zusammenfassungen insbesondere von Textrecherchen dem Output diesbezüglicher menschlicher Arbeit „zum Verwechseln ähnlich(er)“

geworden. Eine wesentliche Ursache für die breite Aufmerksamkeit, die Systemen wie ChatGPT geschenkt wird, könnte im erstgenannten Punkt liegen, nämlich an der sehr einfachen Nutzbarkeit. Denn zum ersten Mal ist Interaktion mit sog. KI möglich, ohne dass dafür Computerkenntnisse erforderlich sind. Auf diese Weise wird KI auch für IT-Laien nutzbar, weil das Interface von ChatGPT von Beginn an ähnlich einfach zu bedienen war wie bei etablierten Webanwendungen wie Google oder WhatsApp. Der zweite Punkt der Aufzählung spiegelt die Leistungssteigerung des generativen Transformers wider, der im Vergleich zu seinen Vorgänger­versionen mit erheblich mehr Parametern trainiert worden ist, nämlich mit 175 Milliarden (GPT-3) statt 1,5 Milliarden (GPT-2).

Inwieweit der Begriff „Intelligenz“ tatsächlich angemessen oder noch überhöht ist, kann im Rahmen des vorliegenden Aufsatzes dahingestellt bleiben. Denn die Potenziale der Verknüpfung beider o. g. Technologien „Chat“ und „GPT“ sind selbst dann beeindruckend, wenn es sich bei ihr „nur“ um ein – gegenüber Urversionen – gigantisch größeres künstliches neuronales Netz handelt, auf das man mittels – geschriebener oder gesprochener – natürlicher Sprache zugreifen kann. ChatGPT ist in der Lage, umfangreiche und unterschiedliche Aufgaben zu erledigen, vom Verfassen von E-Mails und sonstigen Texten über Übersetzungen bis zur Erstellung von Programmiercodes. Zudem kann ChatGPT umfassend frei formulierte Fragen von Nutzenden beantworten.

Dementsprechend erscheint das Szenario plausibel, dass Systeme wie ChatGPT bei geeignetem Training zumindest die Kommunikation zwischen Menschen und Maschinen zunehmend barriereärmer und damit alltäglicher machen. Als Folge dessen könnten sowohl zahlreiche Routine- als auch Fleißaufgaben von Computern übernommen werden, was Kostenstrukturen und damit die Wettbewerbsfähigkeit von KI-nutzenden Wirtschaftssubjekten verbessern kann.

In Ausführungen über die Stufen von Industrialisierung schreibt das Institut für Business Engineering der Fachhochschule Nordwestschweiz:

„Innovation und technischer Fortschritt folgen bislang einem klaren Muster: zuerst zen­traler Einsatz der Innovation, gefolgt von einem dezentralen Einsatz mit Vernetzung. Anschließend folgt die nächste Innovation mit einem ähnlichen Ausbreitungsmuster. Daraus lässt sich eine Prognose für Industrie 5.0 und 6.0 ableiten.“

In der betreffenden Prognose spielt künstliche Intelligenz die Hauptrolle: Zentrale KI könnte Anstoß zur Stufe „Industrie 5.0“ (gewesen) sein, dezentrale KI eine Stufe „Industrie 6.0“ auslösen.

Abbildung 1: Die Entwicklung von „Industrie 1.0“ zu „Industrie 5.0/6.019

Diese Projektion erscheint nicht zuletzt deshalb plausibel, weil sich selbst bei skeptischer Haltung gegenüber KI nicht von der Hand weisen lässt, dass heutige (Steuerungs‑)Systeme schlichtweg mehr „wissen“ können als ihre Urahnen ab dem Jahr 1969. Sie verfügen über das in ihrem Trainingsmaterial enthaltene Erfahrungs-, also Expertenwissen, wodurch sich allein schon das Spektrum ihrer vordefinier­baren, also passiven Reaktionsmöglichkeiten erheblich verbreitert.

Wesentlich für Entscheidungen über den Einsatz von sog. künstlicher Intelligenz und für die Bewertung von deren Nutzenstiftung ist jedoch immer, sich bewusst zu machen bzw. zu bleiben, dass die Qualität und der Umfang ihres Inputs die Geeignetheit ihres Outputs bestimmen. Es kommt also darauf an, dass auch sog. künstliche Intelligenz gut „erzogen“ wird.

3 Resultierende Notwendigkeit einer Industrialisierung der Finanzwirtschaft

3.1 Bankprodukte: Vehikel zur Erreichung i. w. S. realer Ziele

Bankprodukte, also sowohl Dienst- als auch Wertleistungen, werden i. d. R. wegen ihrer Eigenschaft als „Mittel zum Zweck“ nachgefragt.20 In der Nutzung von Bankprodukten spiegelt sich also sowohl die unmittelbare als auch die mittelbare Befriedigung von Bedürfnissen wider.21

Als Beispiele für die unmittelbare Deckung elementarer Bedarfe sind Einkäufe von Lebensmitteln für den jeweiligen Tag oder die laufende Woche, aber auch die nächst­fälligen Mietzahlungen für die eigene Unterkunft zu nennen. Für die dabei zu leistenden Zahlungen wird seit Langem nicht mehr nur bzw. nicht mehr vorwiegend Bargeld verwendet, sondern es kommen seit Jahren zunehmend Zahlungsformen zum Einsatz, die auf Buchgeld aufsetzen: Überweisungen, Girocards, Kreditkarten, PayPal, Giropay u. Ä. Die Coronapandemie ab dem Jahr 2020 hat mit dem Bedarf, zur Vermeidung von Virusinfektionen möglichst kontaktarm einkaufen und bezahlen zu können, den Trend zu bargeldlosem Bezahlen verstärkt.

Wesentliche Beispiele für die mittelbare Deckung elementarer Bedarfe durch Verfolgung ökonomischer Ziele sind die Erzielung von regelmäßigem Arbeits­einkommen durch Erwerbstätigkeit und/oder die Vereinnahmung von periodischen oder barwertigen Kapital­einkünften durch Investitionstätigkeit. Folglich wird auch das ökonomische Ziel „Geld verdienen“ i. d. R. nicht als Selbstzweck verfolgt, sondern

  • sowohl aus Vorsorgegründen, um auch morgen oder später elementare Bedarfe decken und hierzu – siehe oben – Lebensmittel und Kleidung einkaufen sowie die Wohnungsmiete bezahlen zu können, 
  • als auch zur Erreichung von Zielen auf höheren Stufen der Bedürfnis­pyramide.

Demnach lässt sich die Verfolgung ökonomischer Ziele letztlich ebenso unter der Erreichung i. w. S. real(wirtschaftich)er Ziele subsumieren.

Da die im vorletzten Absatz angesprochenen Investitionen durchaus kredit­finanziert getätigt werden können, dienen zudem auch Geldaufnahmen und ‑anlagen, also die Wertleistungen der Kreditinstitute letztlich der Bedürfnis­befriedigung. Denn durch die Aufnahme von Krediten und/oder die Anlage von Geldern werden i. w. S. realwirtschaftliche Handlungen zielsetzungs- und kapazitätsgerecht von der Verfügbarkeit eigener Mittel zeitlich entkoppelt oder mit ihr synchronisiert.

Bankprodukte spiegeln folglich insgesamt Vorgänge und Entwicklungen der Realwirtschaft in einer Art wider, die an sog. „kulturfolgende“ Pflanzen- und Tierarten erinnert, die sich moderne menschliche Zivilisationsformen zunutze machen bzw. sich an sie (selbst) anpassen.

Als Beispiel für die eigentlich also triviale Aussage, dass Bankprodukte nicht um ihrer selbst willen nachgefragt werden, lohnt sich eine kurze Nahaufnahme der Online-Bezahlplattform PayPalTM, die im Kontext des Erfolgs der Online-Handels­plattform eBayTM entwickelt wurde. Beim Versandhandel ursprünglicher Art waren im Gegensatz zum stationären Einzelhandel faktisch keine Zug-um-Zug-Geschäfte des Typs „Ware gegen (Bar-)Geld“ möglich. Folglich waren im Versandhandel die Transaktionsrisiken zumindest faktisch asymmetrisch zwischen den (Versand‑)Händlern und ihren Kunden verteilt. Seitdem jedoch 

  • durch PayPalTM und dessen Nachahmer Zahlungen mit der Geschwindigkeit von E-Mails erfolgen können und
  • PayPalTM und dessen Nachahmer anbieten, unter dem Namen bzw. der Funktion „Käuferschutz“ als Treuhänder zwischen Käufern und Verkäufern zu fungieren, 

sind auch im Onlinehandel Zug-um-Zug-Geschäfte möglich. Neben dem gewerb­lichen Onlinehandel profitieren davon insbesondere sowohl klein­gewerbliche Händler und Dienst­leister als auch private Flohmarkt­verkäufer. Denn weil mittlerweile auch über räumliche Distanzen Zug-um-Zug-Geschäfte des Typs „Ware gegen Geld“ möglich sind, können z. B. Flohmarktverkäufer ihre Artikel auf der Suche nach Käufern aktiv im Internet bewerben, statt zuvor rein passiv darauf hoffen zu müssen, auf Flohmärkten von passenden Interessierten gefunden zu werden. Eines der sinnfälligsten Beispiele hierfür ist die Etablierung von Plattformen wie kleinanzeigen.de, hood.de u. Ä.


3.2 Vom werktäglichen Nine-to-five-Rhythmus stationärer Filialen zur 24/7-Verfügbarkeit des Ankerprodukts „Zahlungsverkehr“

Weil Bankleistungen im soeben hergeleiteten Sinne „Kulturfolger“ sind, müssen ihre Produktion und ihre Abrufbarkeit mit der Geschwindigkeit der i. w. S. real­wirtschaftlichen Handlungen der Wirtschaftssubjekte Schritt halten.

Daher ist es nicht verwunderlich, dass die in Abschnitt 2 skizzierten, nicht zuletzt von technologischen Fortschritten angestoßenen Veränderungen der Real­wirtschaft auch im Bankenbereich erhebliche Auswirkungen hatten und weiterhin haben werden.

Wohl an erster Stelle ist zu nennen, dass die Beschleunigung insbesondere des Güterhandels (z. B. durch Bestellungen per E-Mail oder in Onlineshops) auch eine Beschleunigung des Zahlungsverkehrs erforderte:

Seitdem sowohl Geschäfts- als auch Privatkunden praktisch jederzeit Einkäufe tätigen können, ist bzw. wäre es im Wortsinn anachronistisch, wenn ein zu langsamer Zahlungsverkehr zum Engpass würde, der die Ergreifung von geschäftlichen Chancen oder die Erfüllung privater Bedarfe und Wünsche be- oder gar verhindert.

Die gesamte Prozessdauer einer Zahlung wird aber nicht nur von der technischen Ausführungs­dauer determiniert, sondern auch von eventuellen Warte- bzw. Liegezeiten eines Zahlungs­auftrags. Daher wurde es notwendig, dass Kunden unabhängig von den Öffnungszeiten der Bankfilialen insbesondere sowohl Zahlungs­aufträge als auch i. w. S. Einzugsermächtigungen22 erteilen können.

Technisch existieren mindestens Teile dieser Emanzipation bereits seit Einführung von Geldautomaten, kundenzugänglichen Kontoauszugsdruckern, Überweisungs­terminals und des stationären Onlinebankings.23 Diesen Entwicklungs­stufen liegt das Prinzip „Selbstbedienung“ zugrunde, indem die Kunden ihre Bedarfe und Aufträge direkt in maschinell weiterverarbeitbarer Form mitteilen. Ein enormer Schub für die Unabhängigkeit der Verfügbarkeit zumindest der Zahlungs­verkehrsleistungen und -produkte der Banken von ihren Öffnungs­zeiten ging jedoch von der sukzessiven Substitution von Bargeld durch Karten­zahlungen und der Einführung und zunehmenden Popularisierung von mobilem Banking am Smartphone aus. Denn beides vervollständigt die zeitliche um die auch räumliche Unabhängigkeit der Kunden von Bankfilialen, deren Besuch selbst zur Eröffnung eines Girokontos durch Neukunden nicht mehr zwingend erforderlich ist.24

Mobiles Banking ist für sich genommen zunächst nur die Verlagerung des stationären Onlinebankings auf im engen Sinn tragbare Geräte. Das komplexitäts­reduzierte und ‑reduzierende Bedienkonzept der Smartphones und Tablets (vgl. Abschnitt 2.2) ermöglicht jedoch darüber hinaus die Entwicklung von Software­applikationen („Apps“), die die – im Servicesinne – Selbstbedienung der Kunden an ihren zudem eigenen, selbst verwalteten Mobilfunkgeräten vereinfachen, welche sie insbesondere zwecks mobiler Sprach-, Nachrichten- und Bild­kommunikation mittlerweile ohnehin ständig bei sich haben. Gleichzeitig fungieren Smartphones als Werkzeug für die sog. Zwei-Faktor-Authentifizierung.

Die Test- und Vergleichsergebnisse von Banking-Apps spiegeln deren Selbst­bedienbarkeit anschaulich wider, denn ihre Handhabung wird mittlerweile praktisch durchgängig mit „gut“ bewertet.25 Was – bildlich gesprochen – „im Angebotsregal“ einer Banking-App liegt, lässt sich anscheinend also tatsächlich gut (selbst) bedienen.

Genauso, wie das Mobiltelefon das Festnetztelefon überflügeln konnte, hat also spätestens das mobile Banking das Filialbanking zumindest beim Ankerprodukt „Zahlungsverkehr“ überholt, und bezeichnenderweise geschah dies am bzw. mit demselben Gerät. Statt nur im früheren „Nine-to-five“-Rhythmus an maximal fünf Werktagen pro Woche, der von den Öffnungszeiten der Bankschalter definiert war, ist die gegenüber der Vergangenheit erheblich erweiterte Palette von Zahlungs­verkehrs­leistungen „24/7“ verfügbar, also rund um die Uhr an jedem Kalendertag.26

Der Stellenwert, der rund um die Uhr verfügbaren Zahlungsmitteln zukommt, spiegelt sich in einer Aufgliederung des Statistischen Bundesamts vom Februar 2024 zur Frage wider, was von Privatpersonen im Jahre 2023 online gekauft wurde. Denn bereits mehr als 20 Prozent der Bevölkerung im Alter von 16 bis 74 Jahre bestellten allein in den letzten drei Monaten vor der Umfrage, also tendenziell im letzten Quartal 2023, sogar Güter des täglichen Bedarfs, also auch Lebensmittel, Getränke, mindestens gelegentlich online (siehe nachfolgende Grafik). Konsolidiert um Mehrfachnennungen haben in diesem Zeitraum 68 Prozent der Befragten online eingekauft. Bei zeitlich links offenem Intervall („in der Vergangenheit schon mindestens einmal etwas im Internet gekauft“) beträgt die Nutzungsquote bereits 82 Prozent.

Abbildung 2: Onlinebestellungen 2023 nach Kategorien27

Vergegenwärtigt man sich, dass – im engen oder weiten Sinne – „verderbliche“ Güter wie insbesondere Lebensmittel, Getränke, Zeitungen und Zeitschriften, Download­lizenzen für Musik und Filme eine sofortige und endgültige Bezahlung erfordern, wird unmittelbar nachvollziehbar, dass ein Onlinehandel mit ihnen ohne Zahlungsmittel, die Zug-um-Zug Geschäfte ermöglichen und „24/7“ verfügbar sind, nicht praktikabel ist (vgl. Stichwort „Risikoverteilung“ im obigen Abschnitt 3.1).

Lässt man die Entwicklung des Onlinehandels der letzten 20 Jahre insgesamt Revue passieren, dann hat diese also nicht nur im Handel, sondern auch bei den Banken den ursprünglichen Engpass- und (Zeit‑)Stressfaktor „Öffnungszeiten“ für die Kunden erheblich gelockert.

3.3 Industrialisierung als erfolgskritische Notwendigkeit für Banken

Die Konsequenzen der bisherigen Ausführungen liegen tendenziell auf der Hand:

Die Rund-um-die-Uhr-Verfügbarkeit mindestens des Massen- und Ankerprodukts28 „Zahlungs­verkehr“ lässt sich ohne Automatisierung, also ohne eines der Kern­elemente von Industrialisierung, weder qualitativ noch kapazitätsmäßig leisten. Denn die Fehlertoleranz liegt letztlich bei null Prozent, und bereits diese Fehler­freiheit lässt sich realistischerweise nur per IT erreichen.

Hinzu kommt, dass sich bereits im stationären Einzelhandel zeitliche Häufungen von Zahlungsverkehrsaufträgen nicht ausschließen lassen, z. B. an den Advents­wochenenden in der Vorweihnachtszeit. Im bzw. durch Onlinehandel können solche Ballungen aber auch abseits erwartbarer saisonaler Verläufe auftreten, wenn nämlich z. B. der Vorverkauf von begehrten Eintrittskarten zu Konzerten beginnt. Die positive Schlagzeile lautet in diesem Fall, dass ein Konzert oder eine komplette Tournee innerhalb kürzester Zeit ausverkauft war. In den 3.600 Sekunden einer Stunde sind dann u. U. mehrere Zehntausend Ticketkäufe abgewickelt worden, was nur durch technikgestützte Selbst­bedienung effizient darstellbar ist. Angesichts der vergleichsweise seltenen29 Berichte darüber, dass die Nichtverfügbarkeit von Zahlungssystemen Beeinträchtigungen in der Real­wirtschaft verursacht hat, ist die Schluss­folgerung zumindest nicht unberechtigt, dass die Finanzwirtschaft im Großen und Ganzen über einigermaßen ausreichende IT-Kapazitäten zur Bewältigung des Zahlungs­verkehrs­aufkommens verfügt.

Ohne Automatisierung von nicht bloß automatisierbaren, sondern sogar von Kunden selbst bedienbaren Leistungen sind also das Angebot und der Betrieb insbesondere des Ankerprodukts „Zahlungsverkehr“ einschließlich mindestens der Girokonten nicht mehr vorstellbar. Deren Selbstbedienbarkeit, die allerdings keine Selbst­bedienungs­pflicht bedeutet, gehört mittlerweile zum Geschäfts­modell.

Bezüglich Standardisierung und Spezialisierung als weiterer Elemente von Industrialisierung ist die Wiedererkennbarkeit in der Bankenbranche tendenziell geringer:

Angesichts der Immaterialität von Bankleistungen ist Standardisierung nicht eindeutig notwendig bzw. sie findet eher als Modularisierung statt, die dem Prinzip der Duplikation bei der Bewertung von Finanzprodukten ähnelt. Bei materiellen Gütern (z. B. in der Auto­produktion) erfordern bzw. verursachen individua­lisierende Sonderausstattungen Differenzierungen im Herstellungs­prozess und limitieren dadurch eine Produktion „auf Vorrat“, die mindestens bei Massengütern zwecks kurzfristiger Lieferfähigkeit durchaus sinnvoll sein kann. Demgegenüber werden Bankprodukte faktisch ohnehin nur „on demand“ erzeugt, zumal sie praktisch immer auf den Namen des jeweiligen Kunden bzw. der jeweiligen Kundin ausgestellt werden und Zahlungsströme auf die Kunden­bedürfnisse und -ziele anzupassen sind.30

Im Gegensatz zu materiellen Gütern verursacht die Ausdifferenzierung von Bankprodukten also vergleichsweise geringe Produktionsgrenzkosten, weil sie i. d. R. nur spezifische Algorithmen erfordert. Die verschiedenen Algorithmen (z. B. die Verarbeitung von Einzel- und Dauer­auftrags­überweisungen oder von Einzügen, aber auch die Anlage von Giro-, Spar- oder Darlehenskosten) können jedoch grundsätzlich genauso auf ein und demselben Großrechner eines Rechenzentrums ausgeführt werden, wie im privaten Umfeld verschiedene Anwendungs­programme auf ein und demselben Laptop oder Smartphone lauffähig sind.

Durch diese zumindest technische Integrierbarkeit mindestens einer Fülle von Bankleistungen lassen sich diese wie Bausteine eines Konstruktionsbaukastens nahezu wahlfrei kombinieren und aus dieser Sicht „unter einem Dach“ anbieten:

So kann ein Girokonto je nach Kundenwunsch problemlos mit einer oder mehreren Giro- und/oder Kreditkarte(n) kombiniert werden, und aus technischer Sicht lassen sich solche Zahlungsmittel zudem sowohl für Tages- oder Termingeld­konten als auch für Darlehenskonten erstellen. Gleichzeitig können zwecks ganzheitlicher Beratung und -betreuung für jeden Kunden bzw. jede Kundin bekanntlich sowohl Giro-, Darlehens-, Anlage- und Depotkonten nebeneinander bestehen.

Demzufolge ist in der Finanzwirtschaft mit ihren immateriellen Produkten und Leistungen auch die Spezialisierung tendenziell gröber ausgestaltet als in güter­wirt­schaftlichen Industriebetrieben der Realwirtschaft. Aus funktionaler Perspektive beherbergt eine Universalbank traditioneller Art, also z. B. eine Sparkasse oder eine Genossenschaftsbank, bislang nämlich i. d. R. mehrere, theoretisch trennbare „Betriebe“ gleichzeitig, und zwar

  • eine Vertriebsbank,
  • eine Produktbank und
  • eine Transaktionsbank.31

Werden sie vom Vorstand der Sparkasse bzw. Genossenschaftsbank quasi „simultan“ geleitet, dann greifen sie häufig auf einen gemeinsamen Ressourcen­pool bezüglich Personal und Sachmitteln (z. B. Nutzung des jeweiligen verbundeigenen Rechen­zentrums) zurück.32

Von den für die Industrialisierung typischen Merkmalen Automatisierung, Standardisierung und Spezialisierung ist also die IT-gestützte Automatisierung am sichtbarsten. Unter dem Begriff Digitalisierung umfasst sie u. a. auch den Aspekt, an welchen Schnittstellen zwischen Kunden und Banken Selbst­bedienung technisch und rechtlich möglich ist und akzeptiert wird.

Die gedankliche Zergliederung eines Kreditinstituts in Vertriebs-, Produkt- und Transaktions­bank hilft bei der Beantwortung der Frage, ob in allen drei funktionalen Teilbanken gleich gute Voraussetzungen für Automatisierung bzw. Digitalisierung existieren, also für Prozess­optimierungen, deren Rationalisierungs­effekte funktional denen der Industrialisierung der Realwirtschaft entsprechen.

Wie oben angeklungen, stellen bei der Betrachtung der „Industrialisierung“ von Banken infolge der Immaterialität ihrer Produkte und Leistungen die Zwecke „Eigenoptimierung interner Prozesse“ und „Ermöglichung von Kunden­selbst­bedienung“ zwei Seiten derselben Medaille dar. Bereits reine Geld­ausgabe­automaten sind Dialogsysteme, bei denen die Frage müßig ist, ob sie eher im Bankinteresse zur Einsparung von Personal oder vielmehr zwecks Überwindung von Öffnungszeiten im Flexibilitätsinteresse der Kunden eingeführt wurden. Zuerst lagen also – wie in Abschnitt 3.2 beschrieben im Zahlungsverkehr bzw. (in der o. g. Begrifflichkeit) in der Transaktionsbank gute Voraussetzungen für Automatisierung vor. Dort wurden und werden sie seither weitgehend korrespondierend zum technischen Fortschritt genutzt, wie an Funktions­erweiterungen der Banking-Apps für Smartphones und Tablets sowie an der Einführung von Chatbots in das webbasierte Onlinebanking abzulesen ist.

Weniger stark automatisiert dürften diejenigen Bereiche sein, in denen ein tiefes Vertrauens­verhältnis zwischen den Kunden und ihren Kundenberatenden notwendig ist, um maßgeschneiderte Konzepte bezüglich

  • Geldanlagen und ‑aufnahmen, also der Wertleistungen der Banken, sowie 
  • notwendiger oder empfehlenswerter Vorsorgeprodukte 

entwickeln zu können.

Daher ist vor allem in der gedanklich separierten Vertriebsbank ein höherer bzw. hoher Individualisierungs- und deswegen ein spiegelbildlich geringerer Standardisierungsgrad zu erwarten (vgl. obige Ausführungen zur Modularisierung, die auch bei Massenfertigung Individualisierungen ermöglicht).

Gestützt wird diese Tendenzaussage durch eine Anfang September 2023 in der Presse publizierte Studie der Unternehmensberatung PricewaterhouseCoopers (PwC) zur Industrialisierung des Kreditgeschäfts. In ihr heißt es, dass der durch­schnittliche Industrialisierungsgrad des Firmenkundenkreditgeschäfts bei 41 % und des Privat­kunden­kredit­geschäfts bei 50 % liegt. „Die Vielzahl der befragten Institute liegt unter dem Durchschnittswert des jeweiligen Geschäfts­bereiches. Konkret heißt das, dass selbst gängige Verfahren wie ‚E-Signature‘ oder ‚Online-Legitimation‘ noch nicht implementiert sind.“33

Im Hinblick auf rechtliche Grenzen der Industrialisierbarkeit des Kreditgeschäfts ist ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom 07.12.2023 interessant, in dem es um die Zulässigkeit eventuell automatisierter Kreditentscheidungen geht.34 Laut EuGH verstößt das Scoring der Schutzgemeinschaft für allgemeine Kreditsicherung (SCHUFA) nämlich zumindest dann gegen die Europäische Daten­schutz­grund­verordnung (DSGVO), wenn die Kunden der SCHUFA – beispielsweise Banken – ihm eine „maßgebliche“ Rolle bei ihrer Vertrags­entscheidung beimessen. Wichtige Entscheidungen dürfen nach der DSGVO nicht allein auf Basis von automatisiert verarbeiteten Daten – also ohne Mitwirkung eines Menschen – getroffen werden. Laut EuGH kann diese Praxis aber ausnahmsweise erlaubt sein, wenn z. B. der nationale Gesetzgeber eine Ausnahme­vorschrift erlässt. In Deutschland gibt es im Bundesdatenschutzgesetz eine solche Vorschrift, weswegen als Folge des EuGH-Urteils die Subsumier­barkeit eventuell automatisierter Kreditvergabeentscheidungen unter die Ausnahme­klausel geprüft wird. Interessant hierbei könnte die Asymmetrie werden, dass vor Zivilgerichten letztlich nur regelbasierte Kreditverweigerungen beklagt werden, aber keine regelbasierten Kreditzusagen wie insbesondere Limit­erhöhungen oder die Gewährung eines Ratenkredits bei Abschluss eines Kauf­vertrags.

Als Gesamtfazit und fortwährender Handlungsauftrag ergibt sich daher, dass angesichts eventuell nicht nur technischer, sondern auch rechtlicher Grenzen für die Industrialisierung alle zulässigen und effizienten Prozess­unter­stützungen genutzt werden sollten, um vermeidbare „Handarbeit“, in Begriffen der Industrialisierung Manufaktur­betrieb, auch tatsächlich durch IT-Einsatz zu substituieren. Diese Empfehlung unterscheidet sich im Ergebnis nicht vom Umgang insbesondere mit Komplexität und Risiken, und zwar sowohl in der Real- als auch in der Finanzwirtschaft. Denn auch dort besteht das Ziel darin, die bei der Befriedigung von Kundenwünschen auftretenden Komplexitäten und Risiken auf ihren unvermeidlichen Umfang zu reduzieren und die ökonomische Effizienz der Restkomplexität und ‑risiken her- bzw. sicherzustellen. Neben der quantitativen und qualitativen Optimierung des Outputs wirkt Industrialisierung also c. p. risikoreduzierend, nämlich gewissermaßen „an der Quelle“, und ist daher für die effiziente Bewirtschaftung sowohl des Betriebsvermögens als auch der Risikodeckungsmassen eine erfolgskritische Notwendigkeit.

Zusammenfassung

In der einleitend angesprochenen Studie aus dem Jahr 2012 zur Chronologie, Begriffsdefinition und Authentizität von Industrialisierung im Bank­bereich lieferten weder der Literaturstand bis etwa 2011 eine einigermaßen einheitliche Definition einer Industrialisierung der Banken­branche noch ließ sich aus Produktivitäts- und Ergebniszahlen klar herauslesen, in welchen Stufen der bankbetrieblichen Wertschöpfungskette sie bereits wirksam war.

Im vorliegenden Aufsatz wurde die Blickrichtung praktisch umgekehrt, indem implizit die Frage gestellt wurde, ob die Umsetzung der in den letzten gut 15 Jahren beobachtbaren Veränderungen im Bankensektor möglich gewesen wären ohne die Wesensmerkmale von Industrialisierung (Automatisierung, Standardisierung, Spezialisierung).

In der Rückschau, in der man sich zugegebenermaßen mit der Beschreibung und Beurteilung von Sachverhalten und der Formulierung von Ursache-Wirkungs-Hypothesen leichter tut, ist diese Frage nach Ansicht des Verfassers zu verneinen.

Über den Autor

Dr. Patrick Kuchelmeister ist stv. Vorstandsvorsitzender der Kreissparkasse Ravensburg und verfügt über weitere langjährige Vorstandserfahrung bei diversen Regional- und Direktbanken. Er war langjähriger Lehrbeauftragter an der Universität Duisburg-Essen sowie der Hochschule Hannover und engagiert sich aktuell in Lehre und Forschung an der Hochschule für Finanzwirtschaft & Management, Bonn, und weiteren Hochschulen.