Dr. Patrick Kuchelmeister
Industrialisierung im Bankbereich
Einleitung
Trotz der Risiken, die – im Gegensatz zu überarbeiteten Neuauflagen – mit Fortsetzungen verbunden sind, wird mit dem vorliegenden Aufsatz versucht, den Beitrag mit dem Titel
„Industrialisierung – eine internationale Literaturstudie zur wissenschaftlichen Bestandsaufnahme von Chronologie, Begriffsdefinition und Authentizität und deren Auswirkungen im Bankbereich“
aus dem Jahre 2012 fortzuführen. Das Risiko, dass Lesende des vorliegenden Sequels vielleicht enttäuscht sein werden, ist aber vielleicht vertretbar angesichts dessen, dass es im Rahmen einer Festschrift eingegangen wird. Denn in diesem Format darf ein Thema eher zumindest teilweise auch essayistisch bearbeitet werden als insbesondere in Lehrbüchern, zu denen Prof. Dr. Lister über viele Jahrzehnte mindestens beigetragen hat bzw. deren Co-Autor er ist.1
Nach Ansicht des Autors ist ein essayistischer Freiraum nicht zuletzt angesichts der technologischen (oder technologisch angestoßenen) Beschleunigung hilfreich, die in den letzten Dekaden zu konstatieren ist und im weiteren Verlauf des Aufsatzes in Grundzügen nachgezeichnet werden wird. Denn in praktisch allen Lebensbereichen ist in den letzten knapp zwei Jahrzehnten eine Durchdringung mit Informationstechnologie und – damit nahezu symbiotisch verbunden – eine Tempozunahme zu verzeichnen. Als Folge davon ist es nach Ansicht des Autors deutlich schwieriger geworden, mit den teilweise nicht nur beschleunigten, sondern bisweilen sogar disruptiven Entwicklungen in Politik, Gesellschaft und Wirtschaft – und damit auch im Bankbereich – empirisch-induktiv beschreibend Schritt zu halten.
Der o. g. Aufsatz zum Thema Industrialisierung im Bankbereich, an den mit dem nachfolgenden Text angeknüpft werden soll, schloss mit dem Fazit, dass in der zugehörigen Fachliteratur bis etwa 2011
- im Bankensektor […] Industrialisierungskonzepte und ‑maßnahmen in Abhängigkeit von der jeweils betrachteten Stufe der Wertschöpfungskette stark [differieren],
- verwendete Kennzahlen der Industrialisierung […] teils quantitativer und teils qualitativer Art [sind] sowie
- Chancen und Risiken der Industrialisierung im Bankensektor […]
werden konnten.
Das bedeutete faktisch, dass der Begriff „Industrialisierung“ im Bankbereich bis etwa 2011 zwar nicht nur ein bloßes „Buzzword“ war, aber am ehesten als Sprachbild bzw. Leitmotiv zu verstehen war.
Dem vorliegenden Aufsatz liegt ein anderes Vorgehen zugrunde, nämlich die Beschäftigung mit der Frage, ob die Umsetzung der in den letzten gut 15 Jahren beobachtbaren Veränderungen im Bankensektor möglich gewesen wäre ohne zentrale Elemente von Industrialisierung (Automatisierung, Standardisierung, Spezialisierung).
1.2 Standardisierung, Spezialisierung und Automatisierung als Schlüsselelemente der realwirtschaftlichen Industrialisierung5
Bereits die Mechanisierung und erst recht die Automatisierung von Produktionsprozessen physischer Güter sind aus Herstellersicht nur interessant, wenn mehrere bis viele Exemplare derselben oder eng verwandter Güter entweder existenziell benötigt oder zumindest nachgefragt werden, sodass bei ihrem – in der Totalperiode vollkostendeckenden – Absatz die für den Technikeinsatz erforderlichen Ausgaben wieder eingespielt werden können.
In grundsätzlich funktionierenden Marktwirtschaften kommen Produktivitätssteigerungen, die Herstellungsprozesse und -kosten durch Rationalisierungen, Skalen- und Verbundeffekte (sog. Economies of Scale6 und Economies of Scope7) erfahren können, sowohl den Anbietern als auch den Nachfragern von Gütern zugute, sei es durch bessere Verfügbarkeit, geringere Preise oder höheren Gewinn. Daher liegt das Zustandekommen von Nachfragemengen, die durch hinreichende Größe Investitionen in Produktionsmechanisierung bzw. ‑automatisierungen anstoßen, im Interesse beider Marktseiten. Diese Anreizkonstellation begünstigt oder bewirkt oftmals ein zumindest implizites Einvernehmen zwischen Anbietern und Nachfragern bezüglich (Bandbreiten‑)Standardisierungen von Gütern.
Daher ist Industrialisierung ohne ein Mindestmaß an Standardisierung praktisch nicht vorstellbar. Standardisierung umfasst hierbei auch die Normierung von Teilen und Verfahren. Eine Zusammenfassung einzelner Teile zu Fertigungselementen und einzelner Arbeitsabläufe zu einheitlichen Prozessen führt zur Reduzierung der Produktionszeit und ‑kosten. Sie erleichtert zudem Kooperationen über Abteilungs- und Unternehmensgrenzen hinweg. Gleichzeitig leistet sie einen Beitrag, Qualitätsnormen und Kontrollmechanismen zu verbessern.8
Angesichts dieser Effekte kann bei hinreichend großen Nachfragemengen Standardisierung Spezialisierungen nach sich ziehen. Spezialisierung erhöht ihrerseits den Grad der Arbeitsteilung, und infolge der mit ihr praktisch synonymen Konzentration auf ein Set von (Kern‑)Kompetenzen ebnet auch sie den Weg für die Automatisierung von Produktionsprozessen. Komplexe Abläufe werden in einzelne, unmittelbar miteinander verbundene Teilaufgaben und ‑prozesse zerlegt und an ausgewählte Organisationseinheiten delegiert, die ausschließlich die vordefinierte Aufgabengruppe übernehmen. Dies führt im Idealfall zu einer Steigerung der Expertise innerhalb dieser Einheit, auch und gerade im Hinblick auf Werkzeugunterstützung und ‑einsatz bis hin zu Mechanisierung und Automatisierung. Als Kehrseite zunehmender Arbeitsteilung bzw. Spezialisierung können allerdings insbesondere die Koordinationskomplexität sowie gegen- oder einseitige Abhängigkeiten zunehmen. Aus institutionsökonomischer Sicht steigen dann die Transaktions(risiko)kosten.9
Wegen der ihr immanenten Reduktion bzw. Abkehr von manueller Fertigung ist Automatisierung das wohl augenscheinlichste Element von Industrialisierung, sie setzt aber i. d. R. zumindest Standardisierung, ggf. auch Spezialisierung voraus.10
1.3 Vom mechanischen Webstuhl zur Automation von Produktionsprozessen: 200 Jahre Industrialisierung im Schnelldurchlauf
Im Rahmen der rückschauenden Beschreibung von Industrialisierung hat sich ein Stufenmodell etabliert, in dem sie wie Software mit Versionsnummern versehen wird.
Die Stufe „Industrie 1.0“ wird auf das Ende des 18. Jahrhunderts datiert, oftmals sogar konkret auf das Jahr 1784, in dem Edmund Cartwright den mechanischen Webstuhl namens Power Loom erfunden hat. Die damit verbundene Produktivitätssteigerung beim Weben wäre aber ohne die vorherige Einführung der Spinnmaschine „Spinning Mule“ mindestens ein‑, wenn nicht sogar ausgebremst worden.
Ungefähr 1870 wurde die nächste große Stufe „Industrie 2.0“ erreicht, als die erste Fließbandproduktion gestartet wurde. Ihr industriegeschichtlicher Stellenwert, speziell die trotz Verteilungsungleichheiten gesamtwirtschaftlich festzustellende Wohlstandssteigerung, darf als bekannt vorausgesetzt werden.
Bis zum nächsten Meilenstein „Industrie 3.0“ vergingen erneut etwa 100 Jahre, bis nämlich 1969 die erste Speicherprogrammierbare Steuerung (SPS) entwickelt wurde. Das Anwachsen und die marktliche Verfügbarkeit von Rechnerkapazitäten für zumindest zentrale Datenverarbeitungen ermöglichten die Automation der Produktionsprozesse. Die Prozessautomation wurde kontinuierlich weiterentwickelt und stellte eine relevante Voraussetzung für den Entwicklungsprozess der Digitalisierung dar (Sensoren, PPS etc.).
Eine Visualisierung und Fortsetzung des Stufenmodells finden sich als Abbildung 1 im Abschnitt 2.3, da
- der Meilenstein, mit dem die nächste Stufe „Industrie 4.0“ assoziert wird, nämlich die Verbreitung dezentraler, aber vernetzter Datenverarbeitung, und
- seine Folgen
Ausgangspunkt des nächsten Abschnitts 2 sind.
2 Zusammenwachsen von Informations- und Kommunikationstechnologie und Durchdringung fast aller Lebensbereiche
Da – wie in Abschnitt 3.1 näher ausgeführt werden wird – Bankprodukte praktisch nie um ihrer selbst willen nachgefragt werden, sondern sprichwörtlich nur Mittel zum Zweck sind, ist es nach Ansicht des Autors sinnvoll, Veränderungen der Bankenbranche im Kontext bzw. als Reflex gesellschaftlicher Veränderungen zu sehen.
Als wesentliche Gabelung wird im vorliegenden Abschnitt das Vordringen von Informations- und Kommunikationstechnologie in fast alle Lebensbereiche beleuchtet werden, das seit mehr als 15 Jahren beschleunigt stattfindet.
2.1 Integration von Informations- und Kommunikationstechnologie: der Siegeszug des Smartphones
Fortschritte im Bereich Informations- und Kommunikationstechnologie waren bzw. sind in der Regel auf die Miniaturisierung der für sie notwendigen Bauteile zurückzuführen. Denn durch Miniaturisierung lassen sich die beiden operablen klassischen Stoßrichtungen von Effizienzsteigerungen geradezu beispielhaft umsetzen, nämlich
- entweder „gleiche Leistung bzw. gleicher Output bei weniger Input“
- oder „mehr Leistung bzw. Output bei gleichem Input“.
Vielleicht (nicht) nur in der Wahrnehmung des Autors wurde bis zum Ende der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts die Miniaturisierung von Bauteilen der Kommunikationstechnologie, die zudem sukzessive leistungsstärker wurden, tendenziell intensiver zur Verkleinerung von Kommunikationsgeräten genutzt. Als Beispiel ist die Schrumpfung von Mobiltelefonen in ihren äußeren Dimensionen seit Einführung digitaler Netze Anfang der 1990er-Jahre zu nennen.11
Im Jahr 2007 wurde dann jedoch ein zunächst alternativer Entwicklungspfad eröffnet, dessen Erfolg nicht feststand:
Das vom Apple-Gründer Steve Jobs am 09.01.2007 vorgestellte iPhone der ersten Generation hatte größere Ausmaße als seinerzeit verfügbare konventionelle Mobiltelefone. Aber es war – im Gegenzug zum Zuwachs in Länge, Breite und Gewicht – über die Telefon- und Internetkonnektivität hinaus nun auch als Mikrocomputer (einschließlich „intelligenter“ durch kontextabhängige virtuelle Tastatur auf dem Touchscreen) leistungsstark genug, um auf ihm ein updatefähiges Betriebssystem zu implementieren, für das sich Anwendungssoftware entwickeln lässt, die aus Kundensicht relevant ist. Da die Firma Apple bis dato keine Mobiltelefone hergestellt hatte, stellte das iPhone also nicht bloß ein signifikant besseres Telefon dar, sondern definiert seitdem einen neuen Gerätetypus, an den wir uns heute unter dem Namen „Smartphone“ gewöhnt haben.12
In der Ex-post-Betrachtung ermöglichte die Integration von Informations- und Kommunikationstechnik in handliche Geräte, deren Maße und Gewichte sich zwischen Portemonnaies und Brieftaschen bewegen, die Entwicklung mobil nutz- und vernetzbarer Software durch Anbieter, die nicht mindestens auch Hersteller von Mobilfunkgeräten oder/und des auf ihnen jeweils exklusiv laufenden Betriebssystems waren bzw. sind.
Oder um es durch Nennung der wesentlichen Firmen einfacher zu beschreiben:
Indem zunächst Apple für das von ihm entwickelte iPhone und dessen Betriebssystem iOS eine Umgebung zur Softwareentwicklung bereitstellte, wurde es technisch möglich, dass im Prinzip „jeder“ Anwendungssoftware für die internetfähigen und auch als Mikrocomputer immer leistungsstärker werdenden Smartphones entwickeln kann. Die als Suchmaschine gestartete Firma Google tat es Apple auf der Ebene des für mobile Geräte konzipierten Betriebssystems „Android“ gleich.
Der wesentliche Unterschied zwischen den heute zwei verbliebenen Biotopen „iOS“ und „Android“ besteht insbesondere darin, dass das eigentliche iOS von Apple letztlich nur auf Geräten der Firma Apple betrieben werden kann, während Google sein Betriebssystem „Android“ auch zur Implementierung auf Endgeräten lizenziert, die nicht von Google hergestellt werden.13
Seitdem das Betriebssystem eines Mobiltelefons vom physischen Gerät emanzipiert und zudem updatefähig ist, sind das Nutzer- und damit das Absatzpotenzial von Software für Mobilgeräte nicht mehr auf den Käuferkreis des jeweiligen Geräts beschränkt. Dadurch wurde zum einen die Softwareentwicklung für Smartphones zu einem Geschäftsmodell, dessen Zeithorizont nicht mehr von der Verbreitung und Aktualität konkreter Gerätemodelle abhängt. Zum anderen hat die daraus resultierende Verbreiterung des Softwareangebots für Smartphones wiederum deren Popularität beflügelt, weil sie sich durch das Hinzufügen von Apps zu Werkzeugen für eine Vielzahl von Funktionen jenseits von Telefonie und Textkommunikation machen lassen. Das Smartphone ist gewissermaßen die digitale Spielart des multifunktionalen Schweizer Offiziersmessers, und diese Stellung hat ihrerseits die Integration weiterer Hardwarefeatures angelockt (GPS-Empfänger, Gyroskop-Sensor, Fingerabdruckscanner etc.), sodass – wie bei maschineller Fertigung von Maschinen (vgl. Abschnitt 1.2) – sich gegenseitig verstärkende Entwicklungen einsetzen konnten. Im Ergebnis hat das Smartphone zur Überarbeitung bestehender Geschäftsmodelle (u. a. bezüglich Business-to-Consumer‑, also B2C-Schnittstellen, Zielmärkten und Geschwindigkeit) mindestens wesentlich beigetragen und die Tür zur Entwicklung neuer Geschäftsmodelle eröffnet (vgl. Abschnitt 3.2).
2.2 Durchdringung fast aller Lebensbereiche mit Informations- und Kommunikationstechnik
Vergegenwärtigt man sich, dass sich die elementaren Bedürfnisse des Menschen – Essen, Kleidung, Wohnen, notwendige Mobilität usw. – letztlich nicht digital befriedigen lassen, dann wird umso deutlicher, dass und wie sehr Informations- und Kommunikationstechnik über ihre ursprünglichen Einsatzgebiete hinaus mittlerweile in fast alle Lebensbereiche Einzug gehalten haben. Denn in zahlreichen Feldern hat sich Digitaltechnik bis kurz vor die reale Bedürfnisbefriedigung ausgebreitet.
Viele Automatisierungen, die vor 40 Jahren (also etwa zu Ausbildungsbeginn von Prof. Dr. Lister) noch Science-Fiction waren, weil nur die seinerzeitigen Supercomputer über die notwendige Rechenleistung verfügten, aber leider die Größe von Wohnzimmerschränken hatten,14 sind heute Realität. Hierzu einige Beispiele:
- Smarte Spülmaschinen lassen sich fernsteuern und melden sich, wenn ihnen Verbrauchsmaterial fehlt.
- Smarte Kühlschränke können ihren Inhalt überwachen und in „Rücksprache“ mit ihren Besitzenden Nachbestellungen von Lebensmitteln auslösen.
- Smarte Haustechnik erhöht in Erwartung unserer Ankunft z. B. die Raum- und Wassertemperaturen und startet unsere Playlist für den Feierabend oder/und passt die Beleuchtung an.
- Elektrische Zahnbürsten erinnern an das Zähneputzen, protokollieren und bewerten es.15
- Smartwatches erheben, protokollieren und bewerten physiologische Messwerte wie insbesondere Pulsschlag, Blutdruck und Sauerstoffsättigung des Blutes.
- Batterieelektrische Pkw navigieren uns nicht nur zu unseren Fahrzielen, sondern schlagen bei der Routenplanung von Mittel- bis Langstrecken vor, wann und wo wir sie unterwegs nachladen können.
- Steuerungs- und Navigationssoftware von Pkw lässt sich durch sog. Over-the-Air-Updates aktualisieren, weil moderne Pkw mittels Mobilfunk der 5. Generation nicht nur mit ihren Besitzenden, sondern auch mit ihren Herstellern vernetzt sind.
- In Restaurants wird das Personal beim Servieren von Speisen und Getränken von Robotern unterstützt, die die Laufwege zwischen der Küche und den Tischen kennen.16
- In Japan stehen Kranken- und Altenpflegenden zur Erleichterung und mengenmäßigen Bewältigung ihrer Arbeit Roboter zur Verfügung.17
Dreh- und Angelpunkt der meisten o. g. Beispiele sind dabei das Smartphone oder das Tablet als dessen „großer Bruder“. Auf sie lassen sich auch Anwendungen verlagern, für die bis vor einigen Jahren noch Spezialgeräte als „gesetzt“ galten, wie z. B.
- E-Book-Reader in der Größe eines einzigen Buches, auf die sich aber dank ihrer Internetverbindung im Prinzip jeder elektronisch bereits erschienene sowie in der Zukunft erst noch erscheinende Buchtitel laden lässt, und
- Spielekonsolen, an denen via Internet in jeder Altersklasse Multiplayer-Games mit gleichaltrigen Mitspielenden auf jedem Kontinent gespielt bzw. ausgetragen werden können, gipfelnd z. B. in E-Sport-Meisterschaften.
Pointiert formuliert kann man sagen, dass sich – sofern man eine nutzenstiftende Verwendung dafür sieht und sowohl Stromanschluss als auch Mobilfunkverbindung vorhanden sind – mittlerweile praktisch überall ein internetfähiger Mikrocomputer namens Smartphone anbringen lässt. Denn dieser vernetzte Kleinstrechner mitsamt seinem Full-HD-Touchdisplay und seinen zahlreichen Sensoren ist in etwa noch so groß wie ein Stapel Karteikarten des Formats DIN A6.
Diese Trendaussage ist nicht zuletzt auch deshalb in ihrer Tendenz zutreffend, weil mittlerweile als netzwerkfähige „Standrechner“ sog. Ein-Platinen-Computer mit den Abmessungen einer Zigarettenschachtel erhältlich sind, auf denen aktuelle Linux-Distributionen und auch das PC-Betriebssystem Windows 11TM lauffähig sind. Sie kosten weniger als 150 Euro (inklusive Umsatzsteuer), also deutlich weniger als Smartphones.18
2.3 Künstliche Intelligenz als wahrscheinlicher Dreh- und Angelpunkt der weiteren Entwicklung
Dem Schriftsteller Mark Twain (1835–1910) wird der Satz zugeschrieben, dass Prognosen schwierig sind, besonders wenn sie die Zukunft betreffen. Daher lohnt das Ausschauhalten nach Sachverhalten, die Anlässe für die Annahme bieten, dass – wie es der Zukunftsforscher Robert Jungk (1913–1994) ausgedrückt hat – „die Zukunft bereits begonnen hat“.
Ein solcher Sachverhalt könnte die Veröffentlichung des Chatbots ChatGPT im November 2022 sein; seither scheint der Begriff „künstliche Intelligenz“ (KI) einen Boom zu erleben. Die neuesten Generationen insbesondere von Smartphones und Tablets, aber auch von Suchmaschinen-Apps werden damit beworben, dass sie über sog. künstliche Intelligenz verfügen.
Um sich konkret ChatGPT zu nähern, bietet sich zunächst die Analyse seines Namens an:
Als Chatterbot, Chatbot oder kurz Bot wird ein textbasiertes Dialogsystem bezeichnet, das Chatten mit einem technischen System erlaubt. GPT ist die Abkürzung für „Generative Pre-trained Transformer“ (in etwa „erzeugender vortrainierter Umformer“), bei dem es sich laut der Online-Enzyklopädie Wikipedia um eine Art großes Sprachmodell und ein bedeutendes Framework für generative künstliche Intelligenz handelt.
ChatGPT ist also dem Namen nach ein Chatbot, der sog. künstliche Intelligenz einsetzt, um mit Nutzenden über textbasierte Nachrichten und Bilder zu kommunizieren. Er nutzt zudem moderne maschinelle Lerntechnologie, um Antworten zu generieren, die natürlich klingen und für das Gespräch relevant sein sollen.
Als Resultat dieser Synthese aus Chatbot und einem generativen vortrainierten Transformer sind
- sowohl die Schnittstelle zwischen „Mensch und Maschine“ barriereärmer
- als auch zumindest Ergebnisse und Zusammenfassungen insbesondere von Textrecherchen dem Output diesbezüglicher menschlicher Arbeit „zum Verwechseln ähnlich(er)“
geworden. Eine wesentliche Ursache für die breite Aufmerksamkeit, die Systemen wie ChatGPT geschenkt wird, könnte im erstgenannten Punkt liegen, nämlich an der sehr einfachen Nutzbarkeit. Denn zum ersten Mal ist Interaktion mit sog. KI möglich, ohne dass dafür Computerkenntnisse erforderlich sind. Auf diese Weise wird KI auch für IT-Laien nutzbar, weil das Interface von ChatGPT von Beginn an ähnlich einfach zu bedienen war wie bei etablierten Webanwendungen wie Google oder WhatsApp. Der zweite Punkt der Aufzählung spiegelt die Leistungssteigerung des generativen Transformers wider, der im Vergleich zu seinen Vorgängerversionen mit erheblich mehr Parametern trainiert worden ist, nämlich mit 175 Milliarden (GPT-3) statt 1,5 Milliarden (GPT-2).
Inwieweit der Begriff „Intelligenz“ tatsächlich angemessen oder noch überhöht ist, kann im Rahmen des vorliegenden Aufsatzes dahingestellt bleiben. Denn die Potenziale der Verknüpfung beider o. g. Technologien „Chat“ und „GPT“ sind selbst dann beeindruckend, wenn es sich bei ihr „nur“ um ein – gegenüber Urversionen – gigantisch größeres künstliches neuronales Netz handelt, auf das man mittels – geschriebener oder gesprochener – natürlicher Sprache zugreifen kann. ChatGPT ist in der Lage, umfangreiche und unterschiedliche Aufgaben zu erledigen, vom Verfassen von E-Mails und sonstigen Texten über Übersetzungen bis zur Erstellung von Programmiercodes. Zudem kann ChatGPT umfassend frei formulierte Fragen von Nutzenden beantworten.
Dementsprechend erscheint das Szenario plausibel, dass Systeme wie ChatGPT bei geeignetem Training zumindest die Kommunikation zwischen Menschen und Maschinen zunehmend barriereärmer und damit alltäglicher machen. Als Folge dessen könnten sowohl zahlreiche Routine- als auch Fleißaufgaben von Computern übernommen werden, was Kostenstrukturen und damit die Wettbewerbsfähigkeit von KI-nutzenden Wirtschaftssubjekten verbessern kann.
In Ausführungen über die Stufen von Industrialisierung schreibt das Institut für Business Engineering der Fachhochschule Nordwestschweiz:
„Innovation und technischer Fortschritt folgen bislang einem klaren Muster: zuerst zentraler Einsatz der Innovation, gefolgt von einem dezentralen Einsatz mit Vernetzung. Anschließend folgt die nächste Innovation mit einem ähnlichen Ausbreitungsmuster. Daraus lässt sich eine Prognose für Industrie 5.0 und 6.0 ableiten.“
In der betreffenden Prognose spielt künstliche Intelligenz die Hauptrolle: Zentrale KI könnte Anstoß zur Stufe „Industrie 5.0“ (gewesen) sein, dezentrale KI eine Stufe „Industrie 6.0“ auslösen.
Abbildung 1: Die Entwicklung von „Industrie 1.0“ zu „Industrie 5.0/6.0“19
Diese Projektion erscheint nicht zuletzt deshalb plausibel, weil sich selbst bei skeptischer Haltung gegenüber KI nicht von der Hand weisen lässt, dass heutige (Steuerungs‑)Systeme schlichtweg mehr „wissen“ können als ihre Urahnen ab dem Jahr 1969. Sie verfügen über das in ihrem Trainingsmaterial enthaltene Erfahrungs-, also Expertenwissen, wodurch sich allein schon das Spektrum ihrer vordefinierbaren, also passiven Reaktionsmöglichkeiten erheblich verbreitert.
Wesentlich für Entscheidungen über den Einsatz von sog. künstlicher Intelligenz und für die Bewertung von deren Nutzenstiftung ist jedoch immer, sich bewusst zu machen bzw. zu bleiben, dass die Qualität und der Umfang ihres Inputs die Geeignetheit ihres Outputs bestimmen. Es kommt also darauf an, dass auch sog. künstliche Intelligenz gut „erzogen“ wird.
Abbildung 2: Onlinebestellungen 2023 nach Kategorien27
Vergegenwärtigt man sich, dass – im engen oder weiten Sinne – „verderbliche“ Güter wie insbesondere Lebensmittel, Getränke, Zeitungen und Zeitschriften, Downloadlizenzen für Musik und Filme eine sofortige und endgültige Bezahlung erfordern, wird unmittelbar nachvollziehbar, dass ein Onlinehandel mit ihnen ohne Zahlungsmittel, die Zug-um-Zug Geschäfte ermöglichen und „24/7“ verfügbar sind, nicht praktikabel ist (vgl. Stichwort „Risikoverteilung“ im obigen Abschnitt 3.1).
Lässt man die Entwicklung des Onlinehandels der letzten 20 Jahre insgesamt Revue passieren, dann hat diese also nicht nur im Handel, sondern auch bei den Banken den ursprünglichen Engpass- und (Zeit‑)Stressfaktor „Öffnungszeiten“ für die Kunden erheblich gelockert.
Zusammenfassung
In der einleitend angesprochenen Studie aus dem Jahr 2012 zur Chronologie, Begriffsdefinition und Authentizität von Industrialisierung im Bankbereich lieferten weder der Literaturstand bis etwa 2011 eine einigermaßen einheitliche Definition einer Industrialisierung der Bankenbranche noch ließ sich aus Produktivitäts- und Ergebniszahlen klar herauslesen, in welchen Stufen der bankbetrieblichen Wertschöpfungskette sie bereits wirksam war.
Im vorliegenden Aufsatz wurde die Blickrichtung praktisch umgekehrt, indem implizit die Frage gestellt wurde, ob die Umsetzung der in den letzten gut 15 Jahren beobachtbaren Veränderungen im Bankensektor möglich gewesen wären ohne die Wesensmerkmale von Industrialisierung (Automatisierung, Standardisierung, Spezialisierung).
In der Rückschau, in der man sich zugegebenermaßen mit der Beschreibung und Beurteilung von Sachverhalten und der Formulierung von Ursache-Wirkungs-Hypothesen leichter tut, ist diese Frage nach Ansicht des Verfassers zu verneinen.

Über den Autor
Dr. Patrick Kuchelmeister ist stv. Vorstandsvorsitzender der Kreissparkasse Ravensburg und verfügt über weitere langjährige Vorstandserfahrung bei diversen Regional- und Direktbanken. Er war langjähriger Lehrbeauftragter an der Universität Duisburg-Essen sowie der Hochschule Hannover und engagiert sich aktuell in Lehre und Forschung an der Hochschule für Finanzwirtschaft & Management, Bonn, und weiteren Hochschulen.